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Textprobe aus „Wenderomanze“ (S.92 – S.104)
Ost-West Akt

Maike erspähte es bei einem zufälligen Blick in Richtung Tür: Der hagere Typ mit den blondierten Stachelhaaren und dem „Kellner-Räuberzivil“, als nichts anderes empfand sie seine merkwürdig zusammengewürfelte Kleidung aus abgewetzten Jeans und edlem Dinnerjackett, war gerade dabei, den Raum zu verlassen. Hoffentlich haute er jetzt nicht ab! Was sie wirklich schade finden würde, schließlich gehörte er zu den wenigen interessanten Männern auf dem Fest. Doch zu ihrer Erleichterung ging er nicht nach links in Richtung Wohnungstür, sondern geradeaus, wahrscheinlich zur Küche.
Der bisherige Abend war zu ihrer großen Enttäuschung nicht besonders aufregend verlaufen. Kaum jemand hatte sie angesprochen, niemand war auf sie zugegangen, eigentlich war überhaupt nichts passiert. Die meiste Zeit hatte sie mit ihrer Freundin Grit in der Küche verbracht, wo sie von diesem und jenem naschten, während sie aus purer Langeweile die Leute beobachteten und kommentierten. Doch in ihr drängte es, es musste
noch etwas passieren. So hatte sie sich den Silvesterabend nicht vorgestellt. Schon seit Tagen war sie nervös und aufgeregt gewesen, hatte sie wie ein Kind dem Fest entgegen gefiebert. Aber ginge die Party so weiter, dann begänne das neue Jahr genau so trostlos wie das alte geendet hatte. Grit war schon mit dem Vorschlag gekommen, in das Ballhaus in der Auguststraße zu wechseln. Ein „janz duftes Etablissemang“, lästerte sie still mit Blick auf ihre Freundin, die ein paar Schritte von ihr entfernt zu den Klängen von „Riders on the storm“ tanzte und mit geschlossenen Augen die Melodie hingebungsvoll mitsummte. Dort gibt es bestimmt jede Menge Witwentröster, Westentaschencasanovas und biedere Familienväter auf Seitensprungtour aufzugabeln, die rasch den Ehering in die Tasche stecken, wenn es ernst wird. Aber so schlecht kann es mir gar nicht gehen, dass ich mich auf dieses Niveau herabbegeben muss.
Bis dann, kurz nach Mitternacht, der verwegen aussehende Punkverschnitt mit seiner illustren Begleitung aufgetaucht war. Der Neujahrsumtrunk hatte gerade zu seinem lautstarken Ende gefunden, mit zerschmissenen Gläsern und Schluchzen und Tränen, weil sich ein Paar ausgerechnet an diesem Jahreswechsel zur Trennung entschlossen hatte. Endlich war so etwas wie Stimmung aufgekommen. Argwöhnisch hatte sie sogleich die beiden Frauen in seiner Begleitung in  Augenschein genommen. Immerhin waren es
zwei Männer und zwei Frauen, was nahe legte, dass es sich um Paare handelte. Doch bereits der erste Blickkontakt hatte für Klarheit gesorgt. Die Art, wie er sie vorhin im Tanzzimmer mit den Augen verschlang, ließ keine Zweifel offen. Allerdings hatte er dem, sehr zu ihrer Enttäuschung, dann nichts weiter folgen lassen.
Seine Aufmachung, seine selbstbewusste Art und seine schillernde Begleitung wiesen ihn eindeutig als Westler aus. Etwas, was sie ihrem ersten, spontanen Empfinden nach allerdings mit Abwehr erfüllte. Denn seit dem unrühmlichen Ende mit Alex war für sie diese Spezies Mann eigentlich tabu. Aber gab es eine andere Wahl, wenn sie dem Ballhaus entkommen wollte? Da blieb doch nur die Alternative, ihren Vorsatz ausnahmsweise mal beiseite zu lassen und sich den Jungen mit dem ausdrucksstarken Gesicht, ein wenig Intellektueller, ein wenig James Dean, näher anzusehen. Auch wenn er offensichtlich seine liebe Mühe damit hatte, sie anzusprechen.

Karl stand über die Badewanne gebeugt, mit halb hochgekrempelten Ärmeln. Gedankenverloren streckte er die Hand nach einer der karamellfarbenen Freixenetflaschen aus, die unter der glasigen Wasseroberfläche in einem Schwarm von bräunlichen Bierflaschen tümpelten. Der Durst hatte ihn ins Badezimmer getrieben. Nach dem schweißtreibenden Marathon eben im Tanzzimmer klebte ihm die Zunge am Gaumen an, die Stille, die ihn hier abseits des Trubels umgab, tat gut. Nach einigen vergeblichen Anläufen, bei denen ihm das Objekt seiner Suche jedes Mal aufs Neue entwischte, bekam er ein Exemplar endlich zu fassen. Ihr Anteil am Getränkevorrat, den sie nach dem Eintreffen hier deponiert hatten.
Während er die Flasche abtropfen ließ, ging ihm das Bild der Frau mit dem blauen Kleid wieder durch den Kopf, mit er eben beim Tanzen geflirtet hatte. Schon gleich nach ihrem Eintreffen war sie ihm aufgefallen, in der Küche, als sie sich am Büffet bedient hatten, ein echter Hingucker, eigentlich die einzige Frau auf dem Fest, die äußerlich was hermachte. Und so hatte er dann im Tanzzimmer kurzerhand die Gelegenheit genutzt, bei ihr näher vorzufühlen. Mit der bewährten Strategie: Herantanzen, einkreisen, ihre Aufmerksamkeit suchen, Blickkontakt herstellen, den Rhythmus ihrer Schritte aufnehmen, mit den Augen ein unmissverständliches Zeichen geben, und schauen, was zurückkommt. Ihre Reaktion war ohne Zweifel ermutigend gewesen, allerdings auch so intensiv, dass sie in ihm Abwehr hervorgerufen hatte. Projizierte da jemand seine aufgestauten Sehnsüchte und Wünsche auf ihn, den Exoten aus dem Westen?
Diese Art nonverbaler Anmache hatte Tradition, die kannte er noch von früheren Ostberlinbesuchen. Flehende Appelle, mit Blicken, die einen ganz unvermutet auf der Straße, in einem Café oder auf dem Bahnsteig der S-Bahn wie ein Blitz aus weit aufgerissenen Augen trafen, einen durchbohrten und dann, wenn man reagierte, wortlos, allein durch ihren Ausdruck zu verstehen gaben, nimm mich bitte, bitte mit nach drüben, oder gib mir wenigstens durch deine Gesellschaft das Gefühl, dort zu sein.

Doch er hatte damit gerechnet, mit solchen Einseitigkeiten würde jetzt Schluss war. Die Umstände hatten sich verändert, seit sie aus ihrem Sechzehn-Millionen-Freiluft-Gefängnis entlassen worden waren, auch wenn sich einige Nachwirkungen sicherlich noch halten würden. Was ihm im Grunde egal sein konnte, denn derartige Ostberlin-Aufreiß-Beutezüge lagen ihm nicht, dazu war er zu sehr Idealist und auch zu anspruchsvoll (ein Fehler, wie er sich zwar manchmal eingestehen musste, ohne davon loszukommen). Denn das, was bis vor wenigen Wochen zu Mauerzeiten abgelaufen war, grenzte an Prostitution. Zwar bestand der Bezahlwert nicht aus Geld, sondern aus dem Hauch des Westens, im Vorgeschmack der großen Freiheit, versüßt mit ein paar Mitbringseln aus dem Intershop, was die Sache nicht unbedingt besser machte. Aber so wie ihn die Frau mit dem blauen Kleid angeschaut hatte, zeigte eindeutig, dass sie mehr von ihm wollte als lediglich sein Image als Westmann. Ihre hungrigen braunen Knopfaugen hatten für einen winzigen Moment die direkte Verbindung zwischen ihnen hergestellt, sozusagen den heißen Draht von Seele zu Seele.
Was ihn bereits emotional mächtig auf Trab brachte. Die Einsamkeit nagte an ihm. Seit dem Aus mit Irene hatte er mehr oder weniger unfreiwillig im Zölibat gelebt, viel länger schon als ihm gut tat. Mit trostlosen Nächten auf seinem Futonbett, das für zwei gedacht war, und armseligen Selbstgesprächen morgens am Küchentisch und nach seiner allabendlichen Rückkehr vom Büro in seine leere Wohnung. Dabei steckte die Stadt voller fantastischer Singlefrauen, allesamt genauso einsam und liebeshungrig wie er, die nur auf eine Gelegenheit warteten, um ihr Solodasein zu beenden. Zu diesem Potential waren jetzt noch einige Zehntausend Ostfrauen hinzugekommen, die, wie allgemein gemunkelt wurde, ihr Heil in einer Westbekanntschaft suchten.

Die Bilder des Abends gingen ihm durch den Kopf. Hatte nicht alles ausgesprochen verheißungsvoll begonnen? Erst das Essen bei Lore mit ihren beiden Freunden Chris und Kai, Oststämmige wie sie, das opulente Fünf-Gänge-Menü, für das sie sich alle erdenkliche Mühe gegeben hatte. Dann die Euphorie, mit der sie anschließend auf der Oberbaumbrücke das alte Jahr verabschiedet hatten. Dieses unglaubliche Jahr 1989 mit seinen Hoffnungen, Euphorien und Umwälzungen. Eine Sternstunde, wenn nicht für die ganze Menschheit, dann zumindest für Deutschland und Osteuropa. Sie hatten sich darauf verständigt, nicht das offizielle Neujahrsfest am Reichstag aufzusuchen, wo sich die Massen drängen würden und die Stimmung möglicherweise nationalistisch aufgeputscht sein würde, sondern zur Oberbaumbrücke zu fahren. Die seit dem Mauerbau für den Verkehr gesperrte Verbindungsbrücke zwischen den Bezirken Kreuzberg und Friedrichshain symbolisierte wie kaum ein anderes Bauwerk die Teilung der Stadt. Dazu entsprach der Backsteinbau von Otto Stahn mit seinen neugotischen Türmchen und dekorativen Aufbauten seinem ästhetischen Anspruch als Architekt. Wo sonst als auf diesem herausragenden Zeugnis der Berliner Industriearchitektur des Neunzehnten Jahrhunderts könnten sie einen würdigeren Rahmen für ihre mitternächtliche Feierstunde finden?
Aus diesem besonderen Anlass hatte er sogar ein paar Raketen und Knaller mitgebracht. Was Lore zu der spöttischen Bemerkung veranlasste, ob er denn jetzt zum Bürger geworden sei? Das hatte ihn getroffen, aber trotzdem nicht davon abhalten können, eine Rakete nach der anderen in eine leere Sektflasche zu stellen, um sie in den bereits von unzähligen zerberstenden Leuchtkörpern erhellten Nachthimmel hinaufzujagen.
Apropos Lore! Schon während des Essens war ihm aufgefallen, wie hinreißend sich seine Weggefährtin aus vergangenen Hausbesetzertagen herausgeputzt hatte. Ob das allein an dem Anlass lag? Immer wieder hatte er sie mit begehrlichen Blicken aus den Augenwinkeln heraus begutachtet. Am Esstisch in ihrem Wohnzimmer, auf der Brücke, dann auf dem Weg hierher, seine zum Anbeißen hübsche Busenfreundin Lore. Die mit ihrem eleganten, dunklen Wollmantel und den fast kniehohen schwarzen Nappalederschaftstiefeln, dem erdbeerfarbenen, kosakenkappenförmigen Hut und dem perfekt darauf abgestimmten Lippenrot, das umwerfend mit ihrem strähnigen Blondhaar harmonierte, eine hinreißende Mischung aus Szenebraut und eleganter Lady abgab. Nicht zum ersten Mal bedauerte er aus tiefem Herzen, nicht mit ihr zusammen zu sein. Doch als Maltes Freundin blieb sie für ihn unantastbar, da gab es nicht den Hauch einer Überlegung. Das wusste Lore mit dem sicheren Instinkt einer Frau, die sich ihrer Möglichkeiten bewusst ist, und spielte hemmungsloser denn je mit ihren Reizen. Was ihn vermuten ließ, dass sie es diesmal tastsächlich darauf anlegte, die Grenze zum Ernst zu überschreiten. Ein Anlass, um schwach zu werden, keine Frage, wenn da nicht noch etwas anderes im Spiel wäre: ihre Beziehungskrise mit Malte. Lores Freund hatte sich nämlich, anstatt sie nach Leipzig zu begleiten, mit dem Rest der Clique nach Gomera abgesetzt, was im Vorfeld der Reise zu heftigen Beziehungsturbulenzen geführt hatte. Aus diesem Grund deutete er ihre mehr oder weniger unverhohlenen Avancen als Versuch, ihn als Lückenbüßer und Seelentröster für die Zeit ihres Alleinseins zu benutzen. Aber sein am Boden liegendes Selbstwertgefühl war keine Spielweise für frustrierte Freundinnen, deshalb gab es nur eine Devise: Zurückhaltung.
Um Null Uhr waren sie sich dann feierlich in die Arme gefallen. Eine symbolisch bedeutsame wie emotional aufrührende Szene: Ost und West vereint in Freiheit, an der ehemaligen Nahtstelle der Systeme! Während er zurückgetreten war, um mit den Umstehenden in den allgemeinen Neujahrsjubel einzustimmen, waren seine Freunde noch lange umschlungen stehen geblieben. Schließlich weinten sie hemmungslos. Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn, es ist vorbei, der Albtraum ist vorüber. Dann der hämische Abgesang auf ihren ehemaligen Oberhäuptling: Vorwärts immer, rückwärts nimmer! Lang lebe die deutsch’ demograt’sche Rebüblik! Genüsslich imitierten sie die hölzerne, abgehackte Sprechweise des früheren Staatratsvorsitzenden Erich Honecker, reckten dabei trotzig die geballte Faust zum Arbeiterkampfgruß in die Höhe. Zuletzt stimmten sie, sehr zur Irritation einiger Leute, „Auferstanden aus Ruinen” an, die ungeliebte DDR-Hymne. Mit besonderer Betonung auf „Deutschland einig Vaterland”, der Textstelle, die dazu geführt hatte, dass das Absingen der Hymne in den letzten Jahren der DDR verboten gewesen war.
Während sie die Strophen aus heiseren Kehlen in die Nacht hinaus geschmettert hatten, war ihm ganz eigentümlich zumute geworden. Über ihm spannte sich der in tausend rasch verglimmende Sternschuppen zersplitterte Nachthimmel, unter ihm dümpelte das dunkle, ruhige Wasser der Spree. Plötzlich war der Raum um ihn herum so leer. Argwöhnisch ließ er seinen Blick immer wieder zu seinen Freunden gleiten. Er spürte den Abstand, ein leises Gefühl von Ausgeschlossensein erfasste ihn. Nein, nie würde er ihre Geschichte als Ostdeutsche wirklich nachempfinden können, so viel Mühe er sich auch gäbe. Was es hieß, in einer Diktatur aufzuwachsen, dieser unter Preisgabe seiner bisherigen Biografie entronnen zu sein, und so viele Jahre von seinen Wurzeln abgeschnitten leben zu müssen. Doch er wusste, es waren Tränen des Glücks, auch wenn in ihnen viel Trauer und Schmerz mitschwangen. Das machte es ihm leichter, sich nicht ausgegrenzt zu fühlen.
Nach dem Abfeuern seines restlichen Raketen- und Knallervorrats waren sie dann zum Silvesterfest in die Oderberger Straße aufgebrochen. Go east! Keiner wusste so recht, was sie dort erwarten würde. Ein Künstlerfest, das konnte alles oder nichts bedeuten. Jedoch allein der Ort stimmte sie euphorisch. Für Lore, Chris und Kai war es eine Art Heimkehr, zwar mit gemischten Gefühlen, aber letztendlich im Triumph. Und bei Karl, der unbelastet von derartigen deutsch-deutschen Reminiszenzen war, schwang die selbstverständliche Erwartung auf ein amouröses Abenteuer mit. Wer konnte ihm das, trotz aller Ergriffenheit vor der Größe des Augenblicks, verdenken?
Doch dann die Ernüchterung nach dem Passieren der Grenzübergangsstelle Prinzenstraße: Hatte es im Osten eine Epidemie gegeben? Menschenleere Straßen, Dunkelheit, beklemmende Stille - der totale Szenenwechsel! Im Westen hatten feiernde Passanten die Straßen, Bürgersteige und Plätze in eine brodelnde Partyzone verwandelt, war die Luft von Böllerschwaden erfüllt und der Himmel von berstenden Feuerwerkskörpern erhellt gewesen, und hier herrschte Totentanz. Auch in der legendären Meile um den Kollwitzplatz, Lores Aussage nach angeblich der einzige Ort im Osten, an dem was los sei, ließ sich kaum eine Menschenseele blicken. Dabei hatte er gehofft, endlich sein Bild korrigieren zu können. Denn was war für ihn der Osten bisher gewesen? Die Linden, der Alexanderplatz mit seiner merkwürdigen Weltzeituhr und den sterilen Hochhausbauten, dahinter die grauen, verfallenen Altbauquartiere der angrenzenden Innenstadtbezirke. Eine Anhäufung von Tristesse, durch die breite Schneisen wie die Karl-Marx-Allee, die Leninallee und die Dimitroffstraße führten, auf denen man sich als Fußgänger verloren vorkam und die den asthmatisch stotternden, übelriechenden Trabis und Wartburgs als Rennstrecke dienten. Dass der Prenzlauer Berg eine mit Kreuzberg vergleichbare aufmüpfige und höchst kreative Szene beherbergte, war ihm vollkommen entgangen. Deshalb hatte er mit dem Fest die Erwartung verknüpft, seine Versäumnisse so rasch wie möglich nachholen zu können.
Der erste Eindruck auf dem Fest war dann zu seiner Erleichterung recht ermutigend gewesen. Gut, das Haus glich einer Ruine, der gesamte Straßenzug mit seinen kaputten Fassaden, verfallenen Balkonen und den zugemauerten Fenstern im Erdgeschoss weckte in ihm zwiespältige Erinnerungen an die heruntergekommenen Altbauten, die sie Anfang der Achtzigerjahre in den Westberliner Sanierungsgebieten „instandbesetzt“ hatten. Aber innen sah es besser aus. Die Wohnung machte einen soliden Eindruck, war von der Größe und der Einrichtung her sogar ideal für ein Fest dieser Art. Trotzdem empfand er den Trip wie einen Ausflug in eine andere Welt, bei dem ihm allerdings Einiges bekannt vorkam: Die Grüppchen- und Fraktionsbildungen in den Zimmern, die unvermeidlich herumstolzierenden Platzhirsche und Diven, und die allgemeine Zurückhaltung in Bezug auf das Tanzzimmer. Aber was hatte die Reserviertheit zu bedeuten, die ihnen von einigen Gästen entgegen  gebracht wurde? Und was würde, bei allem Respekt vor dem exotischen Ost-Milieu, bei dem offensichtlichen Mangel an ansehnlichen weiblichen Teilnehmern für ihn herausspringen?
Dann das Aufmerken, als er in der Küche die schlanke, großgewachsene Frau von etwa Mitte zwanzig in dem enzianfarbenen Wollkleid mit den auffällig hervortretenden Schulterpolstern entdeckt hatte. Die, einen Teller in der Hand balancierend, mit der anderen wahllos alles einsammelte, was vom Käse-, Wurst- und Kuchenbüffet noch übrig geblieben war. Kein Durchschnittstyp, wie ihm sofort aufging, sondern der selbstbewusste Typ Frau mit dem offenen, energischen Gesicht, das die Reife ausstrahlte, den Anpassungsprozessen des Erwachsenwerdens nicht widerstandslos ausgesetzt gewesen zu sein. Dazu ihre unaufdringliche, mädchenhafte Schönheit, die keinerlei Hilfsmittel benötigte, um zur Geltung zu kommen. Ein wacher, nervöser Blick gab das Selbstverständnis zu erkennen, jemand zu sein, wobei dieses Selbstverständnis ganz offensichtlich von einem Schatten überlagert war. Von einem Schatten, der, wie er instinktiv zu erkennen glaubte, nur von der Einsamkeit von traumzerfurchten Nächten herrühren konnte. Von einem ihm bestens vertrauten Bemühen, täglich um seinen Platz im Leben ringen zu müssen.
Wesensverwandtschaft ist ein starkes Anziehungsmoment. Und wenn sie mit einer derart anziehenden Umhüllung einhergeht, dann kann sie einen dafür empfänglichen Mann in Sekundenschnelle dazu bringen, in spontaner Leidenschaft zu entflammen. So bei Karl. Seine Freunde, Lore, die übrigen Gäste, waren im Handumdrehen vergessen, seine Bedürftigkeit verwandelte ihn in einen Sklaven seiner Instinkte. Doch nach dem Blickwechsel im Tanzzimmer war plötzlich Sendepause, jeder schien auf die Initiative des anderen zu warten. Deshalb zog er es vor, sich noch ein wenig in Geduld zu üben und den mitgebrachten Getränkevorrat aufzusuchen. Der Abend war noch lang, nichts musste übers Knie gebrochen werden.

Er trocknete die Flasche mit einem Handtuch ab und ging zurück in die Küche. Im Schrank suchte er nach unbenutzten Gläsern. Im obersten Fach wurde er fündig. Zwei antike Weingläser mit kunstvollem Feinschliff kamen ganz hinten, neben einigen abgeschlagenen Kaffeetassen und Tellern, zum Vorschein, und standen nun einträchtig auf den Büfetttisch, um dem Zweck ihrer Verwendung zugeführt zu werden. Er löste das Drahtgeflecht, und gerade als er dabei war, den Korken herauszuziehen, fiel ihm bei einem  Seitenblick in Richtung Tür auf, dass die Frau mit dem blauen Kleid aus dem Tanzzimmer herüber gekommen war. Über die Verwendung des zweiten Glases hatte er sich noch überhaupt keine Gedanken gemacht, gut, diese Frage war nun geklärt, aber im Hochgefühl der sich nun eröffnenden Möglichkeit vergaß er prompt den Korken, der sich selbstständig machte und mit einem lauten Plopp aus der Flasche flog, genau in ihre Richtung. Weißer Schaum schoss aus der Flaschenöffnung, ergoss sich über seine Hose, ein paar Spritzer landeten sogar auf ihrem Kleid.
„So schnell schießen also die Preußen,“ sagte die Frau mit einem schadenfrohen Lächeln, während sie in der offensichtlich gespielten Haltung einer erschrockenen Diva vor ihm stehen blieb.
„Aber sie zielen schlecht,“ entgegnete Karl kleinlaut. Angestrengt versuchte er, den außer Kontrolle geratenen Schaumstrom in eines der Gläser zu lenken. „Das tut mir schrecklich Leid. Ich hoffe, dein Kleid hat nicht allzu sehr gelitten.“
„Iwo, dem ist nichts passiert. Aber als Ausgleich für den Schreck bekomme ich jetzt einen Schluck.” Ohne seine Antwort abzuwarten nahm sie das zweite Glas und hielt es ihm entgegen.
Karl umfing sie mit einem erstaunten Blick. Schüchtern war sie nicht, das hätte er bei dem Selbstbewusstsein, das sie ausstrahlte, auch nicht anders erwartet. Aber ihn beeindruckte, wie selbstverständlich sie die Initiative ergriff. Insgeheim beschäftigte ihn noch sein Lapsus mit dem Korken. Hatte er nicht höchst unpassend die Rolle des Tollpatsches eingenommen? Da half nur die Flucht nach vorne, in eine Charmeoffensive.
Er hob die Flasche und hielt sie zum Zeichen seines Einverständnisses in ihre Richtung.
„Gerne“, sagte er mit einem möglichst gewinnenden Lächeln, „eine schöne Frau darf man nicht auf dem Trockenen sitzen lassen!“
„Wenn du meinst“, sagte sie kurz angebunden. Und strafte ihn mit einem misstrauischen Blick.
Karl schaute irritiert auf. Seine als Kompliment gedachte Anrede hatte sie offensichtlich verlegen gemacht. War er zu plump gewesen? Oder wollte sie ihn auflaufen lassen? Doch anstatt die Betretenheit, die sein missglücktes Auftreten als Charmeur hinterlassen hatte, mit einem gewinnenden Lachen oder einer scherzhaften Bemerkung zu überspielen, reagierte er kopflos. Ein hilfloses Lachen huschte über seine Lippen, das mit einem gleichfalls missbilligenden Blick in ihre Richtung einherging. Was die Frau in dem blauen Kleid wiederum in der Annahme bestärkte, ihr Gegenüber, der Westler, wäre, wenn nicht arrogant, zumindest ein wenig hochnäsig.
Aber da war ja noch die Sektflasche. Null Uhr lag zwar schon eine Weile hinter ihnen, doch jetzt auf das Neue Jahr anzustoßen konnte nicht falsch sein. Karl senkte die Flasche und schenkte ihr ein, was die Situation im Handumdrehen entspannte. Während er akribisch darauf achtete, jetzt keinen Tropfen mehr zu verschütten und das Glas nicht überlaufen zu lassen, bemerkte er ihre auffällig muskulösen Unterarme..
„Prosit Neujahr”, sagte er feierlich und stieß mit ihr an.
„Ebenfalls auf ein Gutes, und Prösterchen“, sagte die Frau. „Ich bin die Maike.” Ihre Stimme ließ Nervosität erkennen, aber auch unverhohlene Bereitschaft zur Annäherung.
Ihre Augen trafen sich über den Rand der Sektgläser hinweg. Wieder lag diese eigentümliche Starrheit in ihrem Blick. Reflexartig wich Karl aus, erst zur Seite, und dann, nach einem erneuten Anlauf, in die Gegend ihrer Oberweite. Was bei Maike Irritationen hervorrief. Sie wusste immer noch nicht, ob sich der Mann vor ihr über sie lustig machte, oder ob er es wirklich ernst meinte und sie anziehend fand. Wovon sein begehrlicher Blick auf ihren Busen zwar zeugte, doch bei dem aktuellen Stand ihres Kennenlernens empfand sie eine derartig unverblümte Augenscheinnahme ihrer äußeren Reize als eindeutig verfrüht. In seinem Verhalten lag etwas Routiniertes, Eingeübtes, es ließ den Ausdruck eines echten Gefühls vermissen, das wirklich
sie meinte.
Maike. Karl hatte einen derartigen Frauennamen noch nie gehört. Für ihn war Maike das weibliche Gegenstück zu Mike, oder Maik, wie der aus dem Englischen stammende Männername in der DDR verballhornt wurde. Eine Wortschöpfung, die ihn bei der Flut von exotisch klingenden Vornamen nicht weiter verwunderte. Denn ob mit Maik, Grit, Nadine, Mandy, Enrico, Constance oder Falco, das Bedürfnis war unübersehbar, sich über Namen aus aller Herren Länder die große, weite Welt in ihre kleine, eingepferchte Republik zu holen.
Aber er lächelte süßlich und ließ sich nichts von seiner Häme anmerken.
„Freut mich, Karl”, erwiderte er aufgeräumt, und setzte dann, ohne lange zu überlegen, hinzu: „Meine Freunde nennen mich Qualle.”
Was spontane Erheiterung bei seiner Gegenseite auslöste. Ein Ausdruck von spitzbübischer Belustigung huschte über ihr Gesicht. Sie dachte, jemand mit so einem Kosenamen ist entweder ein Idiot, oder er hat Humor und die Souveränität, damit umzugehen. Letztendlich aber fand sie ihn gut. Denn damit war er in ihren Augen weniger der abgebrühte Flirtprofi aus dem Westen als ein liebenswerter Junge mit Ecken und Kanten, der hinter seiner Strahlemann-Fassade unsichere Seiten offenbarte.
Karl war ihre spöttische Reaktion nicht entgangen. 
„Qualle klingt zugegebenermaßen etwas komisch“, setzte er fort. „Aber du musst wissen, dass es eine Verballhornung von Kalle ist. Ich komme von der Nordsee, wo es diese hübschen Tierchen in rauen Mengen gibt, und das hat meine Freunde zu dieser Namensgebung inspiriert.”
„Aber du bist nicht giftig?“
Maike konnte nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken. Am pikierten Gesichtsausdruck ihres Gegenübers konnte sie jedoch sofort ablesen, wie es in ihm arbeitete. Um Himmels willen, dachte sie erschrocken, ich wollte ihn nicht kränken, hoffentlich ist er mir jetzt nicht böse. Er scheint ein Sensibler zu sein, jemand, den man bereits mit einem falschen Wort aus der Fassung bringen kann. Sie versuchte es mit einem Themenwechsel.
„Wie bist du denn von der Nordsee hierher zu uns gekommen?“, fragte sie treuherzig. Sie schaute ihn dabei mit interessiert hochgezogenen Brauen an, wurde aber von ihrer Freundin Grit abgelenkt, die gerade mit einem Schmalzbrot in der Hand die Küche verließ und ihr aufmunternd zuzwinkerte.
„Nicht direkt von der Nordsee, sondern aus Westberlin, wo ich seit zehn Jahren lebe. Über Lore, die blonde Frau mit dem schwarzen Mini und den hohen Stiefeln.”
„Und woher kennt deine Freundin unsere Gastgeber?“
„Aus ihrer Leipziger Zeit. Sie hat mit ihnen an der Kunsthochschule studiert, bevor sie 1979 ausgereist ist.“
Vor zehn Jahren ausgereist! Nun war Maike wie vor den Kopf geschlagen. Die Frau, der gegenüber sie schon vom ersten Augenblick an eine tiefe Abneigung empfunden hatte, stammte nicht nur von ihrer Seite der Welt, sondern ihr war auch das gelungen, was sie sich jahrelang erträumt hatte: Die Ausreise in den Westen. Für einen Moment schlug ihre Abneigung in Hass um. Hass auf Jemanden, dem das Glück zuteil geworden war, sein Leben in die Hand zu nehmen, und Hass auf eine Konkurrentin, die jetzt aufgedonnert wie eine Diva herumstolzierte und ihr Minderwertigkeitsgefühle verursachte. Der Alkohol war ihr in den Kopf gestiegen, sie war nahe daran, ausfällig zu werden, deshalb suchte sie ihr Heil in der Flucht nach vorne.
„Lass uns rüber ins Tanzzimmer gehen“, schlug sie vor. Dort, so hoffte sie, würde es ihr vielleicht leichter fallen, die negativen Emotionen wieder loszuwerden.
Was bei Karl augenblicklich auf Zustimmung stieß. Seine auffällige Bereitschaft ließ Maike sogar zu dem Schluss kommen, er habe bereits selbst damit geliebäugelt. Doch kaum hatten sie das Tanzzimmer betreten und in einer freien Ecke Aufstellung genommen, blieb er auf Abstand. Ob es an der Musik lag? Inzwischen hatte jemand Heavy Metal aufgelegt, ein Musikstil, der zweifelsohne nicht zum Paartanz einlud. Aber sie war trotzdem wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass er mehr auf Tuchfühlung gehen würde.

© Gottfried Schenk 2006