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Männer als Opfer

Zwischen Ignoranz, Bagatellisierung und Selbstüberwindung: Männer als Opfer

„Männer haben’s schwer, nehmen’s leicht. Außen hart und innen ganz weich. Werden als Kind schon auf Mann geeicht...“ heißt es in „Männer“ von Herbert Grönemeyer, dem wohl bekanntesten deutschen Songtext zum Thema Mannsein. Die Frage, wie schwer es die Männer tatsächlich haben und wie leicht ihnen das Nehmenkönnen fällt, führt auch heute in Zeiten eines gewandelten Rollenverständnisses noch zu erbitterten Kontroversen.

So jedenfalls meine Erfahrung, als ich 1997 in der Männerzeitschrift „Moritz. Zeitschrift für Männer in Bewegung“ einen Beitrag mit o.g. Titel veröffentlichte. Es waren nicht die Männer mit eigener Opfererfahrung, die sich hier vehement zu Wort meldeten. Heftige und in ihrem Tenor äußerst ablehnende Reaktionen kamen von Kollegen aus der eigenen Redaktion und von Exponenten der Männerbewegung. Die Abwehr gegen das Bestreben, dieses Thema für Männer zu besetzen, war so vehement, daß sich als Folge des Disputs die Redaktion auflöste. Damit hatte sich ein zentraler Punkt meiner Thesen unheilvoll bestätigt: Das Thema unterliegt nach wie vor einem Tabu, vor allem unter Männern.
Anlaß und Ausgangspunkt für meine Beschäftigung mit der Thematik waren die Erfahrungen, die ich Mitte der neunziger Jahre als Teilnehmer einer therapeutisch betreuten Männergruppe machte. Ich stieß auf eine Fülle von gravierenden seelischen Verletzungen und Traumatisierungen, die jedes Gruppenmitglied bis zu diesem Zeitpunkt schweigend und ohnmächtig mit sich herumgeschleppt hatte. Allen voran Gewalterfahrungen, emotionale Vernachlässigung, sexueller Mißbrauch und Entrechtung als Väter. Erst durch die intensive, mehrjährige therapeutische Gruppenarbeit war es möglich, zum emotionalen Kern der Ereignisse vorzudringen. In vielen Fällen mit dem unschätzbaren Gewinn für die Betroffenen, daß sie, endlich befreit aus der quälenden Einsamkeit ihrer Erfahrungen, den fatalen Wiederholungszwang und viele der damit verbundenen selbstzerstörerischen Verhaltensmuster überwinden konnten.
Stellte es innerhalb der Gruppe bereits einen unendlich schweren und langwierigen Prozeß dar, diese Erlebnisse zu artikulieren, so war dies außerhalb des geschützten Gruppenraumes so gut wie unmöglich. Jeder Versuch stieß auf eine Mauer des Schweigens und Ablehnung. Eigentlich ein in Zeiten von Gleichberechtigung und veränderter Geschlechterrollen nicht hinnehmbarer Zustand, so mein Dafürhalten. Denn eine Frau wäre hier grundsätzlich auf eine andere Resonanz gestoßen. Auch wenn Gewalterfahrungen, Vergewaltigung oder sexueller Mißbrauch generell keine angenehmen Themen sind und es ganz allgemein eine erhebliche Hemmschwelle zu überwinden gilt, wären ihr Aufmerksamkeit und Anteilnahme ganz selbstverständlich zuteil geworden. Dazu existiert in Deutschland seit den siebziger Jahren ein beinahe flächendeckendes Netzwerk an Frauenhäusern, Therapiezentren und anderen Selbsthilfeeinrichtungen für in Not geratene Frauen. Frauen wird, so mein Resümee, anders als Männern, nicht nur der Opferstatus ganz selbstverständlich zuerkannt, sondern sie erfahren eine ganz andere Dimension von Fürsorge, vor allem was die seelischen Folgeschäden betrifft.

Dieses Konfrontationsein mit einer derart offensichtlichen Diskrepanz veranlaßte mich zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Thematik. Im Zuge meiner Recherchen stieß ich auf einen Aufsatz von Hans-Joachim Lenz im "Handbuch Männerarbeit", der meine Erfahrungen bestätigte. Der Autor, der seit vielen Jahren in der Männerarbeit tätig ist, kommt in seinem Beitrag "Männer als Opfer von Gewalt und Mißhandlung" zu dem Ergebnis, daß es das männliche Opfer - obwohl faktisch vorhanden - in der öffentlichen Wahrnehmung nicht gibt. Es artikuliert sich - von Ausnahmen einmal abgesehen - nicht und wird folglich mißachtet. Da keine Forschungstätigkeit stattfindet, liegen auch keine gesicherten Erkenntnisse vor. Zu einer Beschäftigung mit dem Thema kam es bisher lediglich auf literarischer Ebene.
Diese erschreckende Situation führt Lenz auf die generelle Ablehnung des männlichen Opfers zurück, das im Grunde genommen sogar regelrecht gehaßt wird. Zu sehr stellt seine bloße Existenz das traditionelle Verständnis von Männlichkeit in Frage. Wahrnehmungsblockade und Artikulationsblockade bedingen sich in fataler Weise und eröffnen einen Teufelskreis des Schweigens und der Einsamkeit für die Betroffenen.

Der Entführungsfall Reemtsma

Für eine vertiefende Beschäftigung mit der Thematik bot sich damals der Entführungsfall Reemtsma an. Jan Philipp Reemtsma, der bekannte Hamburger Sozialforscher und millionenschwere Sproß einer Zigarettendynastie, war im Frühjahr 1996 entführt und viereinhalb Wochen unter entwürdigenden Bedingungen in einem Kellerverlies gefangengehalten worden. Erst nach Zahlung eines Lösegelds von dreißig Millionen Mark wurde er freigelassen. Im "Spiegel" schilderte er in mehreren Folgen das brutale Kidnapping und die schrecklichen Tage seiner Gefangenschaft.
Aber was heißt schildern! Hier schrieb sich einer im wahrsten Sinne des Wortes eine traumatische Erfahrung von der Seele. Denn wie Reemtsma selbst bekannte, hat er sich zwar von der Gefangenschaft freikaufen können und ist als Multimillionär auch in der Lage, nun für seine physische Sicherheit besser Vorsorge zu treffen. Aber seine Ängste, die zurückgeblieben sind, lassen sich nicht so einfach - und schon gar nicht mit Geld - aus der Welt schaffen! Und um von ihnen loszukommen, war der sensible, bislang als extrem öffentlichkeitsscheu bekannte Intellektuelle nicht nur zu einer schonungslosen Introspektion bereit, sondern auch mutig genug, diese einer breiten Öffentlichkeit preiszugeben.

Ein erstaunliches, wenn nicht sogar einzigartiges Unterfangen, auch in den Zeiten von Hans Meiser und Ilona Christen. Denn im Gegensatz zum Exhibitionismus dieser Talkrunden präsentierte sich hier jemand ohne eitles Schielen auf Publicity oder Tränenrührsamkeit (und Einschaltquote). Nein, hier versucht ein Mensch schonungslos bis zum Grund einer selbsterlebten und -erlittenen extremen Erfahrung vorzudringen und diese, auch bis hin zu den entlegensten Spuren des persönlichen Involviertseins, auszuleuchten. Und das Besondere, Außergewöhnliche ist in meinen Augen, daß dies ein Mann getan hat.
Denn wer öfter mal in Frauenzeitschriften blättert, liest Bekenntnisse und Erfahrungsberichte von Frauen zuhauf. Ob über Einsamkeit, sexuelle Frustration, berufliche Probleme, erlittene Ehegewalt, Mißbrauch, Vergewaltigung, oder auch so unsäglich banale Dinge wie den "Last-Minute-Seitensprung" von Frauen vor der Heirat ("Der Quickie vor der Hochzeitsnacht", Cosmopolitan 9/95) - es gibt keine Themen, keine Erfahrung, die tabu wären. Sicherlich ist nicht immer gesichert, was tatsächlich hinter den Berichten steckt und wie authentisch die Bekenntnisse sind. Sicher ist nur, daß Frauen - nicht erst seit den Selbsterfahrungsoffensiven aus der Frauenbewegungszeit! - damit weniger Probleme haben.
Nach einer ähnlichen Offenheit sucht man bei Männern vergebens. So war beispielsweise der einzige ähnlich orientierte Beitrag in der Novemberausgabe 1996 von "Men‘s Health" bezeichnenderweise von einer Frau geschrieben ("Wenn Männer zu sehr lieben"). Auch in der Männerzeitschrift "Moritz", immerhin so etwas wie das Organ der deutschen Männerbewegung, herrschte in dieser Beziehung eine ausgesprochene Flaute. Wenn mal geklatscht wurde, dann über die Zirkel der Männerbewegung oder über verblichene Geschlechtsgenossen wie Albert Einstein, dessen menschliche Situation dann mehr durch die ideologische Brille, im Kontext eines - verwerflichen - patriarchalischen Verhaltensmusters, besprochen wurde.
Ganz ohne Probleme ging es für Reemtsma allerdings auch nicht. Er, der sprachgeübte, belesene "Menschenkundler" mußte für sein Entführungstagebuch die dritte Person wählen, um, wie er selber bekennt, "Peinliches" leichter sagen zu können. Das mutet beim Lesen schon eigentümlich an, wenn der Ich-Erzähler der Post-Entführungszeit schlagartig in ein distanziertes "Er" wechselt, sobald das Geschehen zurück in die Tage der Geiselhaft geht. Aber was ist das Peinliche, Beschämende an solch einer Erfahrung, damit man zu so einem Kunstgriff, einer fast literarisch anmutenden Verfremdung, greifen muß? Daß man diese Erfahrung überhaupt gemacht hat, als Mann Opfer einer erniedrigenden, demütigenden Gewalttat geworden ist? Darf hier für Männer etwas ganz einfach nicht sein - obwohl es faktisch gewesen ist?

Gibt es überhaupt männliche Opfer?

Ich stelle die provokative Frage, weil es sein könnte, daß Reemtsma vielleicht nur ein Einzelfall gewesen ist und Männer sonst schweigen, weil sie weniger betroffen sind oder weniger Probleme haben, erlittenes Leid auszuhalten und zu bewältigen. Und ich frage deshalb weiter, ob es aus diesem Grund überhaupt gerechtfertigt wäre, Männern den Status als Opfer zuzuerkennen? Denn zum Faktum des "Opferseins" gehört nicht nur der objektive Tatbestand des Erleidens, sondern auch das entsprechende Eingeständnis des Opfers, das für Außenstehende gefühlsmäßig nach- und einfühlbar ist. Denn wenn ein Mensch unter seinen Qualen nicht wahrnehmbar leidet, so ist naheliegend, ihm diese abzusprechen oder zumindest zu relativieren. Und unbestreitbar ist von männlichen Opfern in bezug auf Leidensentäußerungen wenig zu vernehmen. Was steckt also hinter dem typisch männlichen "Aushalten-" und "Wegstecken"-können? Das Gemüt eines Nilpferdes? Die Panzerung einer Schildkröte? Die Gefühlsbeherrschtheit eines Winnetous, der selbst am Marterpfahl keine Miene verzieht (aber dafür "ewige Rache" schwört)?
Dazu zwei Beispiele. Der ehemalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk wurde im Dezember 1993 Opfer eines Briefbombenanschlags. Der Sprengsatz zerfetzte beim Öffnen des Kuverts seine linke Hand, die trotz aller chirurgischen Bemühungen verstümmelt blieb. Im Krankenhaus äußerte er sich in einem Gespräch mit einem Journalisten der Wiener Kronenzeitung sehr offenherzig über seine Art, mit der seelischen Belastung fertigzuwerden. Er sagte zum Reporter: "Schau: keine Menschenseele kann das, was mir passiert ist, einfach wegstecken. (...) Trotz Beherrschung und notwendiger Härte, was ich beides besitze. (...) Sentimentalität aber ist nur erlaubt, wenn du sie dir für dich ganz alleine leistest. Im stillen Kämmerlein oder auf der Intensivstation. Sentimentale Briefe aber - nein, danke!" (es ging um einen Brief an seine Frau Dagmar Koller).
Noch deutlicher und mit sehr viel tragischerer Konsequenz kommt diese Einstellung im Fall eines Kriegsteilnehmers zum Ausdruck, der mir aus meinem Bekanntenkreis bekannt ist. Herr N. war im zweiten Weltkrieg Soldat in der deutschen Wehrmacht gewesen. Von den Kriegsgreueln, mit denen er an der Ostfront konfrontiert gewesen war, kam er nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft nicht mehr los. Er wurde nachts derart von Angstträumen heimgesucht, daß er keine Ruhe mehr finden konnte. Das nahm so dramatische Ausmaße an, daß es für ihn erholsamer war, wach zu bleiben und überhaupt nicht mehr zu schlafen. Das hielt er viele qualvolle Jahre durch, bis er sich, als Sechzigjähriger, schließlich das Leben nahm. Mir ist nicht bekannt, daß er sich mit seinen Nöten jemals wirklich geöffnet hätte oder ernsthaft in Betracht gezogen hatte, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Zugegeben, das sind zwei extreme Beispiele. Auch gehören beide Männer der Vorkriegsgeneration an und sind für heutige Verhältnisse nicht mehr unbedingt repräsentativ. Sie machen aber den Hintergrund deutlich, vor dem Männer mit so wenig Sensibilität für ihre Leiden rechnen können. Und ist es inzwischen - trotz Eisenhans, Wilfried Wieck, und zahllosen Männerbüros und -gruppen - wirklich anders geworden? Abgesehen von der Tatsache, daß heute selbst Frauen härter und "männlicher" geworden sind, hat sich das Klima hier in der Bundesrepublik seit den achtziger Jahren entscheidend gewandelt. Wie ich meine, nach rückwärts. Als Idole gelten längst nicht mehr sensible Intellektuelle oder idealistische Gesellschaftsveränderer, sondern körpergestylte Kraftprotze und smarte Erfolgstypen. Und die Stimmung ist "cool", das heißt man gibt von sich nichts mehr preis, außer daß man permanent "gut drauf" ist. Wer da nicht mithalten kann, der hilft mal rasch mit einer Prise "Schnee" oder ein paar "E" nach, oder er gibt auf und hat Pech gehabt!

Umkehrung des Täter-Opfer Schemas

In der Sprache der politischen Korrektheit steht Frausein synonym für Benachteiligung und Diskriminierung. Eine Steigerungsform erfährt dieser Zustand noch durch Behinderung sowie eine sexistische und rassistische Unterdrückung. In diesem Sinne gilt die schwarze, behinderte Lesbierin als Inbegriff des Opfers schlechthin. Demgegenüber steht der männliche, weiße Heterosexuelle als der Prototyp des Täters und des Nutznießers der damit in Verbindung gebrachten, sogenannten patriarchalischen Verhältnisse. In dieser Terminologie, die seit den späten achtziger Jahren den gesellschaftlichen Diskurs in den westlichen Ländern bestimmt, gibt es keinen Platz für das männliche Opfer.
Nun haben zwei aufsehenerregende Untersuchungen in der jüngsten Zeit Mißstände aufgezeigt, die ganz und gar nicht in dieses Schema passen. Im Dezember 1997 erschien im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ eine Titelgeschichte unter dem Namen „Die vaterlose Gesellschaft. Geschlechterkampf um Kind und Geld“, die wie das kurze Zeit später nachfolgende Buch „Die vaterlose Gesellschaft. Überfällige Anmerkungen zum Geschlechterkampf“ von Matthias Matussek zu heftigen Reaktionen führten. Beide lösten eine breite öffentliche Debatte aus. Anlaß war der Hungerstreik eines verzweifelt um das Besuchsrecht für seine beiden Kindern kämpfenden Vaters. Damit wurde zum ersten Mal das Problem von ausgegrenzten und entrechteten Vätern öffentlich thematisiert. Die Zahlen, dabei kam zutage kamen, belegten, daß es sich längst um ein gewaltiges gesellschaftliches Phänomen handelt: In Deutschland gab es bereits 1997 eine Million solcher Trennungsväter, zu denen sich jährlich ca. 100.000 dazugesellen. Knapp 60 Prozent teilen das schreckliche Schicksal, ihre Kinder auf Nimmerwiedersehen zu verlieren.
Als hauptverantwortlich für diesen Mißstand wurden ein antiquiertes, einseitig die Bedürfnisse und Rechte der Mütter wahrnehmendes Familienrecht identifiziert. Es degradierte Väter zu reinen Versorgungsinstanzen, und eröffnete dem Rache- und Abgrenzungsbedürfnis von Müttern, die sich einer wie auch immer gearteten Selbstverwirklichung verschrieben hatten, Tür und Tor. Als ideologischer Hintergrund wurde der feministisch geprägte Diskurs der siebziger und achtziger Jahre gebrandmarkt, in dem „Männer als Unterdrücker, Väter als erziehungsuntauglich und die Familie als Keimzelle der Reaktion“ angesehen wurden.

Noch vehementer rüttelt eine wissenschaftliche Studie der Universität Mainz an der oben genannten Täter-Opfer Konstellation. Die im Jahr 2001 von Michael Bock publizierte kriminologische Untersuchung hatte ergeben, daß Gewalt in verschiedengeschlechtlichen Beziehungen zu gleichen Teilen von beiden Geschlechtern ausgeht. Im Klartext heißt das, daß es – anders als landläufig angenommen – körperliche Gewalt von Frauen gegen Männer gibt, und zwar nicht als bedauerliche Einzelfälle, sondern als Massenphänomen. Gewalttaten wie Schläge, Tritte, Messerattacken, genitale Verstümmelungen und sorgfältig geplante Tötungsdelikte treten besonders häufig im Verlaufe von Beziehungskrisen auf. Der Bremer Soziologe Gerhard Amendt, der sich im Rahmen einer Studie mit der Lebenssituation von geschiedenen Männern auseinandergesetzt hat, kommt hier sogar noch zu einem deutlicheren Ergebnis. Sogenannte Handgreiflichkeiten wie Schläge ins Gesicht oder Attacken mit Haushaltsgegenständen gehen zu 58% von Frauen - und nur zu 25% von Männern – aus!
Auf welch eine Mauer aus Unverständnis und Ignoranz dieses Thema im allgemeinen stößt, hat die Initiative für ein Männerhaus gezeigt, die der Berliner Familienberater Peter Thiel vor kurzem gestartet hat. Hier sollen, ähnlich wie bei Frauenhäusern, männliche Gewaltopfer geschützt und angemessen betreut werden. Doch der Berliner Senat, der immerhin sechs Frauenhäuser und eine Reihe von therapeutischen Wohngemeinschaften für Frauen finanziell unterstützt, war zu einer Förderung des Projekts nicht bereit. In der offiziellen Sprachregelung wird Gewalt gegen Frauen weiterhin als „das zentrale Problem“ angesehen, wogegen Gewalt gegen Männer nur als eine „Randerscheinung“ gilt.
Allein das Eingeständnis, sich mit dem Thema zu beschäftigen, löst denn auch heiteres Befremden, ungläubiges Kopfschütteln oder mutmaßende Äußerungen in einem mitleidig-verächtlichen Tenor aus, so meine persönliche Erfahrung. Ist es da ein Wunder, daß die Betroffenen aus Scham lieber schweigen, um wenigstens der Häme und der Mißachtung, als Memme, Schwächling oder Weichei dazustehen, zu entgehen? Für den Fernsehbericht, der im vergangenen Jahr zum Thema Frauengewalt gegen Männer gesendet wurde, fanden sich kaum Opfer, die bereit waren, die erlittenen Mißhandlungen vor der Kamera zu bezeugen.

Schlagzeilen machen lediglich spektakuläre Meldungen wie der Fall Bobbitt  in den USA1994. Der erste weltweit bekanntgewordene Fall einer Entmannung durch die Partnerin – dem ehemaligen Marineinfanteristen John Wayne Bobbitt war von dessen Frau Lorena heimtückisch im Schlaf der Penis abgetrennt worden – führte keineswegs zu einer Welle der Entrüstung und Solidarität mit dem Opfer. Im Gegenteil: Das Gericht befand die Darstellung der Täterin, durch die vorangegangenen erlittenen Gewalttaten des Ehemannes in einem psychischen Ausnahmezustand gewesen zu sein, so überzeugend, daß es zu einem Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit kam.
Ein Urteil, das durchaus im Kontext anderer, weniger spektakulärer Gerichtsentscheidungen gesehen werden kann. Wer die Berichterstattung in den Medien verfolgt, bekommt durchaus den Eindruck, daß selbst Frauen, die ihre Kinder schwer vernachlässigen, mißhandeln, aussetzen oder töten, Verständnis für die Tat und mildernde Umstände erwarten können. Mit einer derartigen Nachsicht können Männer in der Regel nicht rechnen. Diese Ungleichbehandlung veranlaßte die Spiegel-Reporterin Gisela Friedrichsen anläßlich des Strafverfahrens gegen einen Vater, der seine beiden Kinder getötet hatte und eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren erhielt, zu der polemischen Frage, ob eine Frau auch derart hart bestraft worden wäre. Dem 31-jährigen Mann waren mildernde Umstände und ein psychischer Ausnahmezustand nicht zuerkannt worden, obwohl er schweren Demütigungen durch die Mutter der Kinder ausgesetzt gewesen war und nach der Tat einen Selbstmordversuch begangen hatte. Das Gericht störte sich auch nicht daran, daß die Frau bereits während der Verhandlung geschäftstüchtig die Vermarktung der Kinderfotos betrieb.

Ursachen für männliches Schweigen

Unter welchem Druck stehen Männer? Oder besser gesagt, welchen Zwängen setzen sie sich selbst aus? Die Fragen drängen sich auf, denn es ist ja kein Geheimnis, daß sich Männer in bezug auf Selbstüberwindung sehr viel selbst auferlegen. Ich meine, die Weichen dazu werden sehr früh gestellt.
Jeder steht als Heranwachsender mehr oder weniger unter dem Verdikt, von seinem sozialen Umfeld akzeptiert zu werden. Und um von Eltern, Freunden, Mädchen, Lehrern oder von der Clique als "richtiger Junge" angesehen zu werden, heißt das zumeist, ein männliches Verhalten an den Tag legen zu müssen. Auch wenn das ein weitläufiger (und umstrittener) Begriff ist, erfordert es vor allem die Beherrschung von Angst- und Schwächegefühlen und das Erlernen von Stärke gegenüber sich selbst. Eine Verweigerung wäre in den meisten Fällen auch nur um den Preis eines - oft lebenslangen - Außenseitertums möglich, verbunden mit Aggressionsgehemmtheit, Selbstbehauptungsproblemen und einer diffusen männlichen Identität.
Als erwachsener Mann sind dann die Tränen längst vergessen, welche die Mutproben, die Hahnenkämpfe, die physischen Überforderungen einmal gekostet haben. Nicht selten hat eine komplette Ausschaltung von entsprechenden Signalen aus dem Innenleben stattgefunden. So wird er, wenn er einmal Probleme hat, dies allenfalls in dem Tonfall kundtun von "Das bekomme ich noch in den Griff!", "Da muß ich eben durch!" oder "Aber ich lasse mich nicht unterkriegen!". Es wäre auch ein ungeheures Risiko, öffentlich einzugestehen, nicht mehr weiter zu können oder gar am Ende zu sein.
Solange ein Mann da vorher nicht bis an seine physische Grenze gegangen ist, nicht den Herzinfarkt, die Lungenembolie, das Magengeschwür, den Bandscheibenvorfall als Nachweis seines Einsatzes, seiner Verausgabung, seines "Kampfes" bis zum Letzten anführen kann, wird ihm - offen oder versteckt - das Etikett "Schwächling", "Versager", "Feigling", "Weichei" oder ähnliches umgehängt. Nein, in dieser Hinsicht hat sich  - trotz aller Veränderung im traditionellen Rollenverhalten - nichts Entscheidendes geändert. An Männer werden andere, ganz offensichtlich schärfere, härtere Anforderungen und Erwartungen gestellt.
Dabei spielen meiner Ansicht nach "Biologismen" eine nicht zu unterschätzende Rolle. An erster Stelle die durch Erektion und Ejakulation gekennzeichnete körperliche Funktion der männlichen Sexualität. Beim Geschlechtsverkehr wird von einem Mann schlichtweg erwartet, zu „funktionieren“, will er nicht als Versager dastehen. Auch wenn das Spektrum der sexuellen Praktiken sehr viel breiter ist und weit über die reine Penetration hinausgeht, schafft dies einen grundsätzlich prägenden Leistungsdruck, der unvergleichbar größer ist als der von Frauen. Hier sind Fähigkeit und Bereitschaft für die körperliche Vereinigung sehr viel weniger offensichtlich, außerdem stehen bei Problemen eine Reihe unauffälliger, altbewährter Hilfsmittel und Tricks zur Verfügung.
Ein grundlegender Unterschied herrscht auch in den Möglichkeiten, sich im Leben zu orientieren. Während Frauen heute die Wahl zwischen Mutterschaft, Hausfrauendasein oder Berufstätigkeit besitzen, bleibt Männern - als selbstbestimmte Lebensform – nach wie vor nur letztere Möglichkeit. Für ihn ist der Beruf ungleich existentieller, er ist, wie schon seit jeher, auf die Sphäre der Verwirklichung draußen in der Welt angewiesen. Die damit verbundene, althergebrachte männliche Versorgungs- und Beschützermentalität wird von den Frauen auch nach wie vor gerne in Anspruch genommen, und, wie zahllose Unterhaltsverfahren nachdrücklich beweisen, nachhaltig eingefordert.

In der Berufswelt herrschen jedoch - zumindest untergründig - immer noch "atavistische" Gesetzmäßigkeiten. Sie sind von Konkurrenz, vom Kampf jeder gegen jeden, und vom Zwang zur Selbstbehauptung geprägt. Um hier zu bestehen, sind "innere Werte" wie Gefühlsoffenheit, Empathie, Hingabevermögen, Duldsamkeit und Fähigkeit zum Ausgleich nicht von primärer Bedeutung. Sich hier mit seinen Schwächen zu offenbaren hieße lediglich, seinen Konkurrenten im Kampf - sei es um beruflichen Erfolg oder um die Gunst einer Frau - einen Vorteil zu verschaffen. Aber was geschieht mit den Männern, die aus physischer oder psychischer Überforderung "schlapp" machen, bei der Lebensbewältigung versagen, oder Opfer von Gewalt oder eines unverschuldeten Schicksals geworden sind und deshalb scheitern?
Hier gibt die Selbstmordstatistik eine recht deutliche Antwort. Im Jahr 1996 hatten sich in Deutschland mehr als doppelt so viele Männer wie Frauen das Leben genommen. Glücklicherweise verzweifelt nur eine kleine Minderheit so sehr, daß sie nur mehr diesen Ausweg sieht. Deshalb ist eine nach Geschlechtern aufgeschlüsselte Lebenserwartungs- und Krankheitsstatistik aufschlußreicher. Hier ist schon seit längerem bekannt, daß in den Industrienationen Männer acht Jahre früher sterben als Frauen. Der Männerforscher Walter Hollstein, der sich als einer der ersten hierzulande mit der Problematik beschäftigt hat, kommt zum Ergebnis, daß Männer auf Grund ihrer schlechten gesundheitlichen Verfassung als das eigentliche "schwache Geschlecht" angesehen werden müßten!
Kein Anlaß für Männer, sich der im wahrsten Sinne des Wortes mörderischen Konsequenz ihrer zivilisationsgeschichtlich längst obsolet gewordenen gesellschaftlichen Rolle zu entziehen. Vielleicht fällt es Männern auch deshalb so schwer, sich als Opfer zu begreifen und zu artikulieren, weil sie ihre Leiden sehr häufig als Konsequenz eines Systems erfahren, in dem sie - zumindest auf den ersten Blick - als Nutznießer eingebunden sind. Für die Jagd auf Macht, Reichtum und Anerkennung sind Männer nach wie vor bereit, das Risiko auf sich zu nehmen, Gesundheit, Lebenserwartung und körperliche Unversehrtheit aufs Spiel zu setzen.
In den letzten zwanzig Jahren hat dieses System jedoch durch die Frauenemanzipation und einen rasanten technologischen Wandel, der die Arbeitswelt revolutioniert hat, eine grundlegende Veränderung durchlaufen. Männer sind angesichts der neuen Bedingungen herausgefordert, ihr Rollenverhalten zu überprüfen und anzupassen. Dazu gehört, neben einem Wandel in den traditionellen männlichen Wertvorstellungen, auch eine Neubestimmung von männlicher Identität. Diese erfordert eine stärkere Orientierung an den genannten inneren Werte, um den neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten Rechnung zu tragen.
Ein Prozeß, der die Chance eröffnet, mehr Menschlichkeit in die Geschlechterbeziehungen einziehen zu lassen. Eine vielleicht optimistisch stimmende Vision, denn sie könnte damit verbunden sein, daß die Leiden und das Opfer-sein von Männern in Zukunft nicht mehr derart marginalisiert werden müßten.

Bücher als "codierte" Hilfeschreie

Männer werden verletzt, mißhandelt, vergewaltigt, getötet.
Doch man hört ihre Schreie nicht.
Sie werden betrogen, von ihren Frauen verlassen, sie verlieren ihre Kinder.
Doch sie bleiben stumm.

Sie schuften bis zum Umfallen, lassen sich mit Medikamenten aufmöbeln, von Chirurgen wieder zusammenflicken und tragen ihre Krankheiten wie Kriegverletzungen, ihre Narben wie Auszeichnungen.
Doch sie klagen nicht.

Schweigen sie, weil es für männliches Leid keine Sprache gibt??

Wenn Männer solche Schwierigkeiten haben, sich direkt zu äußern, dann muß es andere - indirekte - Wege geben, um ein Ventil für ihren Leidensdruck zu finden. Denn ein permanentes, durchgängiges Sich-verschließen und Unterdrücken von Leidensgefühlen ist selbst für den eisernsten Verdränger und geschicktesten Projizierer weder psychisch noch körperlich auszuhalten. Sport und Leistungsorientiertheit, die "klassischen" männlichen Bewältigungsstrategien, bleiben ohne eine emotionale Öffnung und verbale Artikulation auf die Dauer unzureichend.
Künstlerisches Schaffen stellt dagegen eine ungleich befreiendere und gehaltvollere Form des Umgangs mit den inneren Befindlichkeiten dar. Hier gibt es eine männliche Tradition, die so alt wie die Kulturgeschichte selbst ist. Ohne eine Wertschätzung vornehmen zu wollen, möchte ich mich im folgenden auf die sprachliche Variante, die Literatur, beschränken. Zum einen liegt mir diese persönlich am nächsten, und zum anderen finde ich sie in bezug auf die eingangs angesprochene "männliche Stummheit" auch am aussagekräftigsten. Ich will nun an einigen ausgewählten Beispielen das Spannungsfeld untersuchen, das zwischen den persönlichen Lebenserfahrungen und -prägungen eines Autors und der Weise, wie sich diese in seinem Werk niedergeschlagen haben, liegt.

Werther - die Leiden des jungen Goethe

Die deutschsprachige Literatur bietet hierzu eine ganze Fülle von Beispielen. Die Geschichte männlich-literarischer Leidensentäußerungen hatte bereits im späten 18. Jahrhundert mit Goethes "Leiden des jungen Werther" einen ersten Höhepunkt erreicht. Der Roman ist in Form von Briefen an einen Freund verfaßt und berichtet in einer bewegten, nach heutigem Empfinden gefühlsmäßig übersteigerten Sprache von einer aussichtslosen Liebe. Werther, ein  junger, schwärmerischer Freigeist, lernt auf einem Ball Charlotte S., ein reizendes, geistvolles Mädchen kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch der Verbindung steht die Verlobung Charlottes mit Albert, einem etablierten, charakterlich gefestigten Geschäftsmann im Wege. Trotz der eigentlich aussichtslosen Situation kann Werther nicht von seiner Geliebten lassen, im Gegenteil, ihre Unerreichbarkeit führt dazu, daß er sich immer tiefer und nachhaltiger in sein Liebesbegehren verstrickt. Eine geschäftliche Tätigkeit, die er zu seiner Ablenkung annimmt und die ihn auf eine längere Reise führt, bringt keine Lösung.
Auch der Versuch mit einer neuen Liaison scheitert, da die Dame adelig ist und ihm diesmal aus Standesgründen verwehrt wird. Während seiner Abwesenheit heiraten Charlotte und Albert. Trotzdem kehrt Werther zurück und sucht wieder ihre Nähe, ja seine Liebe entbrennt erneut mit aller Heftigkeit. Schließlich löst sich das Drama auf eine verhängnisvolle Weise. Angeregt durch eine Äußerung Charlottes, die von einem Wiedererkennen und Wiederfinden der Liebenden im Jenseits spricht, fällt Werther den heroischen Entschluß zum Freitod. Nach einer dramatischen, letzten Aussprache mit Charlotte bittet er seinen Nebenbuhler um dessen Pistolen und schießt sich in der Weihnachtsnacht eine Kugel durch den Kopf.
Der Roman wurde weltweit zu einem Riesenerfolg. Nicht nur das, er hatte eine derartige Wirkung, daß er eine Flut von Nachahmungstaten auslöste. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund erklärbar, daß "Werther" in einer Epoche geschrieben wurde, in der die Menschen gerade lernten, sich als einzelne Persönlichkeiten zu begreifen und die eigene Innerlichkeit zur absoluten Maxime erhoben. Eindeutige biographische Zusammenhänge zu Goethes Leben sind belegt. Der Niederschrift des Romans im Jahre 1774 waren zwei gescheiterte Liebschaften des gerade Zweiundzwanzigjährigen vorausgegangen. Beide Frauen hatten sich - trotz seiner Liebesavancen, die offenbar auch erwidert wurden - gegen ihn entschieden. Sie folgten der Konvention und heirateten die bedeutend älteren, gesellschaftlich etablierten Männer, denen sie zugedacht waren. Genauso wie es Charlotte S. im Roman getan hat, die in Charlotte Buff ein namensgleiches, beinahe identisches Vorbild hatte. In lediglich drei Monaten hat sich Goethe mit dem Roman seinen Kummer von der Seele geschrieben, diesen aber später - trotz seines großen Erfolges - lebenslang gemieden.
Von seinem Grundmuster her handelt es sich um einen klassischen Liebesroman. Da sich der Protagonist gegen alle Vernunft, geradezu masochistisch, in ein aussichtloses Begehren hineinsteigert, muß er einen derart tragischen Ausgang nehmen. Trotz der unbestritten vorhandenen Leidenssituation ist es schwierig, hier von einer Opferrolle im engeren Sinne zu sprechen. Denn diese setzt eine klare Ausgeliefertheits- und Ohnmachtssituation voraus, und davon kann in einem frei gewählten Liebesverhältnis nicht die Rede sein. Zumindest in gesellschaftlicher Hinsicht kann Goethe als Opfer der Verhältnisse seiner Zeit angesehen werden, in der Liebe (noch) nicht das bestimmende Element für eine Verbindung war. Seine Angebeteten hatten nicht den Mut, sich gegen die Konventionen aufzulehnen. Doch er hat die Situation auf seine Weise bewältigt, indem er den Werther schrieb und diesen - stellvertretend - leiden und sterben ließ. Dadurch vermochte er nicht nur seinen eigenen Liebesschmerz überwinden, sondern fand auch aus seiner Sturm- und Drangphase heraus. Später hatte der Weimarer Dichterfürst sein Leben bekanntermaßen gut im Griff, zu gut, als daß man sich mit ihm als Opfer weiter beschäftigen müßte. Da jedoch in seinem Briefroman, der als der erste moderne Roman überhaupt gilt, männliches Gefühlserleben in einer Breite offenbart wird, wie es heute fast unvorstellbar erscheint, finde ich ihn jedoch unbedingt erwähnenswert.

Mit Lenz ging auch Büchner "durch´s Gebirg"

Das vier Jahrzehnte später verfaßte Erzählungsfragment "Lenz" von Georg Büchner bietet für meine Intention ungleich mehr Ansatz. Das liegt nicht nur an der Person des Autors, der bereits als Dreiundzwanzigjähriger tragisch früh aus dem Leben schied. Auch die Figur der Erzählung, der baltische Sturm- und Drang-Dichter Jacob Michael Reinhold Lenz (1751 - 1792), verkörpert ein außergewöhnliches Schicksal. Er ist - wenn auch aus anderen Gründen wie Büchner - ein Ruheloser, ein Gehetzter in einer kalten, bedrohlichen Welt. Büchner beschreibt den kurzen Aufenthalt seines Protagonisten in einem Dorf in den Vogesen, wo er im Jänner 1778 bei dem wegen seiner Großmut weit über die Grenzen des Elsaß bekannten Pfarrer J.F. Oberlin Zuflucht sucht. Aber auch dort findet er keine Ruhe vor "sich selber", erleidet vielmehr mehrere psychotische Schübe und wird nach einigen Selbstmordversuchen zurück nach Straßburg gebracht.
Seine Krankheit, dieses "Leiden an sich selbst", wird von Büchner aus solch einer Nähe heraus, mit einer derartigen sprachlichen Kraft geschildert, daß es nicht wie etwas Bedrohliches, Fremdes und im - klinischen Sinne - abgespalten Krankhaftes erscheint. Die desolate Verfassung des Lenz wird vielmehr als die logische Konsequenz einer gefühlsmäßig übersteigerten, verzweifelt nach Halt suchenden Wahrnehmung deutlich. Wie auf Gemälden des Expressionisten Ludwig Meidner stürzen Eindrücke, Stimmungsbilder, Visionen mit geradezu zerstörerischer Gewalt auf ihn ein. Als er unter Bewachung in der Kutsche sitzt und wieder ganz "normal" zu sein scheint, wird auch etwas von den Ursachen deutlich. Es muß die Anpassung an eine zutiefst abgelehnte menschliche und gesellschaftliche Normalität sein, die ihn verzweifeln - und wahnsinnig werden - läßt. Sinngemäß beendet Büchner die Erzählung mit den Worten: "Er schien ganz vernünftig (...); er that Alles wie es die Anderen thaten (...) er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine nothwendige Last. -- So lebte er dahin." Die bittere Realität des "echten" Lenz war, daß er einige Jahre später, als Einundvierzigjähriger, auf den Moskauer Straßen elend zusammenbrach und tot aufgefunden wurde.
In Bezug auf seine Leiden wäre es zu einfach, Lenz als Psychotiker abzutun, dem zu seiner Zeit nur nicht die richtige medizinische Behandlung zuteil werden konnte. Die Erzählung bietet insgesamt allerdings wenig Ansatzpunkte, um deren Ursachen erkennbar werden zu lassen. War er Opfer seines lieblosen, streng pietistischen Elternhauses, oder Opfer der unberechenbaren höfischen Günstlingswirtschaft? Oder gar Opfer der eigenen Unbotmäßigkeit, eines sinnlosen Aufbegehrens gegen die herrschende Ordnung, eines ausschweifenden Lebenswandels? Oder ist er wie Woyzeck Inbegriff der ewig leidenden, menschlichen Kreatur? Ein Vaterkonflikt wird angedeutet - er solle nach Hause zurückkehren, seinen Vater unterstützen, und nicht sein Leben "verschleudern" - , und ein tiefer Widerspruch gegen den damals vorherrschenden Idealismus, den er als "die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur" bezeichnet. Aber muß das einen Menschen derart zerbrechen zu lassen? Der wirkliche Lenz war  allerdings zweifelsfrei Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit, gegen die er sich, nicht nur in seinem Werk, vehement auflehnte. Aber da er von ihnen abhängig war, führte dies zu der schizophrenen Situation, wie sie in seinem Drama "Der Hofmeister" zum Ausdruck kommt. Ein Schlüsselerlebnis war der Bruch mit Goethe und die damit verbundene Verweisung vom Weimarer Hof gewesen, die der Reise in die Vogesen vorangegangen war.
Die eigentlich interessante Frage ist für mich ist allerdings die, inwieweit sich Büchner über die Figur des Lenz selbst mitgeteilt hat. Über Büchners kurzes Leben ist äußerst wenig überliefert. Den wenigen vorhandenen Quellen nach war Büchner zwar körperlich kränklich, aber psychisch ungleich selbstbewußter und selbstmächtiger als Lenz. Er engagierte sich politisch, nahm aktiv am Kampf gegen die aristokratische Willkürherrschaft seiner Zeit teil, und mußte deshalb 1835 ins Exil fliehen, zuerst nach Straßburg, und dann nach Zürich, wo er 1837 starb. Aber wie sah es in seinem Inneren aus? Die Annahme, daß der Autor nur deshalb in der Lage war, seine Erzählfigur so überzeugend, ja authentisch zu zeichnen, weil er ihr - zumindest innerlich - sehr nahe stand, erhärtet sich für mich durch einige seiner Briefe an Minna Jaegle´, seiner Verlobten. Dort findet man Zeilen, die wie Sätze aus der Erzählung klingen: "Unaufhörliches Kopfweh und Fieber (...), beständiges Auffahren aus dem Schlaf und ein Meer von Gedanken, in denen mir die Sinne vergehen. (...) Ich bin allein, wie im Grabe (...). Die Frühlingsluft löste mich aus meinem Starrkrampf." Während er also gegenüber Freunden und seiner Familie vornehmlich über die politischen Verhältnisse und sein berufliches Vorwärtskommen und literarisches Schaffen räsonierte, vermochte er sich hier mit seinen gesundheitlichen und seelischen Nöten zu öffnen. Etwas, was ihm offenbar sonst nur über seine literarischen Figuren Lenz, Woyzeck, Danton gelang.

Die Verwirrung des Robert Musil

Das vielleicht bekannteste Werk, in dem eine männliche Leidens- und Opfererfahrung explizit und schonungslos beschrieben wird, ist Robert Musils 1911 erschienener Roman "Die Verwirrung des Zöglings Törleß". Törleß, das "Alter ego" Musils, ist Schüler in einem elitären Internat der Österreich-ungarischen Monarchie. Irgendwo im Osten des Reiches, wahrscheinlich in Galizien, angesiedelt, soll es die Kinder der Oberschicht - weit entfernt von den "verderblichen Einflüssen einer Großstadt" - für den Staats- und Militärdienst vorbereiten. Der Knabe leidet erst unter "fürchterlichem, leidenschaftlichen Heimweh", lebt nur in seinen Briefe an die geliebten Eltern und schläft "abends stets unter Tränen ein".
Mit dem Nachlassen des Trennungsschmerzes breitet sich allmählich Unausgefülltsein und Leere aus. Er schließt Freundschaften mit einigen Mitschülern und wird Zeuge und Teilhaber an einem perfiden, ausgeklügelten Komplott gegen einen Klassenkameraden. Das Opfer ist Basini, ein weicher Junge von mädchenhafter Schönheit, der bei einem Diebstahl ertappt wurde. Die Gruppe beschließt, ihn anstelle einer Anzeige bei der Anstaltsleitung zu ihrem Sklaven abzurichten. In regelmäßigen Sitzungen, die nachts in einer geheimen, gut gesicherten und schalldicht ausgestatteten Kammer auf dem Boden des Anstaltsgebäudes stattfinden, wird der Unglückliche systematisch in die Enge getrieben. Je nach Stimmung wird er verhört, geschlagen oder mißbraucht. Die Peiniger nützen die Gelegenheit zu privaten Experimenten. Der eine lebt ungehemmt seine sadistischen sexuellen Neigungen aus, der andere verfolgt ein Seelenaustreibungsprojekt nach dem Vorbild indischer Mystiker, und Törleß betreibt Persönlichkeitsstudien - um das "dumpfe, leidenschaftliche, vernichtende" Irrationale im Menschen jenseits der hellen - rationalen - Alltagswelt ergründen.
Anfangs verfolgt Törleß das Geschehen noch ohne besondere Anteilnahme, mehr wie ein distanzierter Beobachter. Die Grausamkeiten regen ihn nicht zu Mitleid oder gar aktiver Hilfe an, vielmehr sind sie Anlaß zu abstrakten psychologischen Beobachtungen und philosophischen Reflexionen. Selbst die schlimmsten Torturen lassen in unberührt und führen allenfalls zu verstärkter Selbstbeobachtung oder zu mathematischen Betrachtungen über Unendlichkeit und imaginäre Zahlen. Das verändert sich, als Törleß eine sexuelle Beziehung zu Basini aufnimmt. Nun ist er involviert, wird kurzzeitig sogar auf die beiden anderen Mitpeiniger eifersüchtig. Er befreit sich daraus, indem er seine sexuellen Bedürfnisse als "dunkle Regungen" von sich weist und sie als ein verwirrtes Begehren ansieht, das "nur eines zufälligen Anlasses bedurfte, um durch die Mauern zu brechen". Als schließlich die Tortur immer schlimmer wird und sich Basini in seiner Not an ihn wendet, wehrt er diesen kühl, mit intellektuellen Phrasen über dessen Niedrigkeit, ab. Erst als er der ganzen Klasse ausgeliefert wird und schon fast halb tot geprügelt ist, entschließt sich der Gedemütigte zu einer Selbstanzeige bei der Institutsleitung und wird daraufhin der Anstalt verwiesen. Es ist für seine Situation charakteristisch, daß er selbst dann noch seine Peiniger schont und niemanden verrät.
Musil hat den Roman als Zweiundzwanzigjähriger geschrieben. Offiziell aus Langeweile, unter der er in seinem ersten Berufsjahr als Maschinenbau-Ingenieur am Institut für Materialprüfung an der Technischen Hochschule Stuttgart litt. Diese Version erscheint mir allerdings, zumindest was die tieferen Beweggründe betrifft, nicht sehr überzeugend zu sein. Denn Musil selbst war, beginnend mit dem achten Lebensjahr bis zur Hochschulreife, in zwei Internaten gewesen. Vor allem in dem zweiten Institut, der k.u.k. Militär-Oberrealschule in Mährisch-Weißkirchen, in die er als Zwölfjähriger eintrat, muß er ungeheuer gelitten haben. So sehr, daß er die spartanische Zuchtanstalt, in der die Zöglinge fast wie Sträflinge behandelt wurden, sein Leben lang als eine Hölle angesehen hat. Selbst vierzig Jahre später erinnert er sich noch mit Entsetzen an die Zeit, bezeichnet die Institution in einer für ihn äußerst ungewöhnlichen, drastischen Sprache als das "Arschloch des Teufels"!
Deshalb ist die Sichtweise sehr naheliegend, daß sich Musil mit dem Schreiben des Romans von dem Trauma seiner Internatsjahre zu befreien versucht hat. Aber abgesehen von der Frage, wie weit dies über eine literarische Arbeit überhaupt möglich ist, war er darin nur zum Teil konsequent. Denn die Anstalt im Buch ist berühmt und exklusiv, und es herrscht, was das Lehrpersonal betrifft, ein edler Geist in ihr. Damit stellt sie das genaue Gegenteil von dem dar, was Musil selbst kennengelernt hat. Und auch wenn er viel von dem, was er dort an Demütigungen und Qualen erlebt haben muß, in die Figur des Basini hinein verlegt, so erscheint mir der Befreiungseffekt über eine derart negativ, ja mit so eindeutiger Abwehr gezeichnete Person gering zu sein.
Seine Identifikationsfigur im Roman ist eindeutig der Törleß, und dieser zeichnet sich dadurch aus, daß er seine Gefühlswelt, seine Ängste, seine Verlorenheit in seinem Innersten abkapselt und zu keinem wirklichen Mitgefühl fähig ist. Seine Fehltritte, sein menschliches Versagen, werden vom Autor sogar mit auffallender Häufigkeit relativiert, was darin gipfelt, daß sie als "jene kleine Mengen Giftes" bezeichnet werden, "die nötig ist, um der Seele die allzu sichere und beruhigte Gesundheit zu nehmen und ihr dafür eine feinere, zugeschärftere, verstehendere zu geben." Das mutet vor dem Hintergrund der im Roman beschriebenen Geschehnisse recht makaber an. Deshalb möchte ich das Ergebnis dessen, was in dem Roman - verharmlosend - mit dem Begriff "Verwirrung" beschrieben wird, als jene Form seelischer Verrohung ansehen, die in diesem Jahrhundert akademisch gebildete Monster  vom Schlage eines Goebbels, Himmler, Mengele hervorgebracht hat.
Darum ist der "Törleß" in meinen Augen auch ein Roman über die seelischen Verunstaltungen eines pädagogisch konsequent umgesetzten Männlichkeitswahns. Das weiche, schwache "Weibische" in den gerade eben ihren Müttern entrissenen Knabenseelen mußte mit aller Macht ausgemerzt werden. Die daraus folgende innere Zerstörtheit findet in der Person des Basini ein befreiendes wie gewalttätiges Ventil. Dessen Verfehlungen, beginnend mit dem Brechen des Ehrenwortes, sein beständiges Lavieren wegen der Rückgabe des gestohlenen Geldes, seine fast bereitwillige Unterwerfung, seine Unsportlichkeit, sein "geringer Verstand", und vor allem seine Homosexualität sind Quelle für ein schier unerschöpfliches Bedürfnis nach Demütigung und Bestrafung. Nach jeder sexuellen Handlung muß er geradezu gezüchtigt werden, weil sonst Gefahr besteht, daß er als Mann dasteht, dem gegenüber man "nicht so weich und zärtlich sein dürfte"! In diesem Licht erscheint mir Basini, im Gegensatz zu seinen Peinigern, als die einzig wirklich menschliche Figur in dem Roman.

Paul Celan: Gedichte als "Flaschenpost"

Unter den vorgestellten Autoren stellt Paul Celan die wahrscheinlich größte Herausforderung dar. Ich habe ihn ausgewählt, weil Biographie und Werk eine Opfersituation geradezu aufdrängen. Die Gedichte Celans zählen zum bedeutsamsten, was die deutschsprachige Lyrik im zwanzigsten Jahrhunderts hervorgebracht hat. Aber sie sind, wie kaum eine andere, schwer zugänglich, und so ist Celans Lyrik zu einer germanistischen Paradedisziplin geworden. Da ich finde, daß sein Werk ganz entscheidend von seiner Biographie geprägt ist, will ich untersuchen, inwieweit der Mann, der diese weltberühmten Gedichte schrieb, sich darin mit seinen Lebenserfahrungen mitgeteilt hat und - möglicherweise auch - erleichtern konnte.
Dazu ein kurzer Abriß seines Lebenslaufs. Paul Celan, der eigentlich Paul Antschel hieß, wurde 1920 in Cernauti, dem ehemaligen Cernowitz, im damaligen Rumänien als Sohn strenggläubig jüdischer Eltern geboren. Im Elternhaus wird nicht das übliche Jiddisch gesprochen, sondern - als Relikt der Habsburger Monarchie - deutsch. Beide Eltern kommen während der deutschen Besetzung in einem Vernichtungslager ums Leben; nur Celan kann sich durch Flucht retten. Er überlebt den Krieg in einem rumänischen Arbeitslager. Unter dem Eindruck des Holocausts schreibt er 1944 die "Todesfuge", sein wohl berühmtestes Gedicht:

(...)
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng
(...)

Die Tatsache, beide Eltern verloren, aber selbst überlebt zu haben, führt zu lebenslangen Schuldgefühlen. Nach kurzen Aufenthalten in Bukarest und Wien übersiedelt er nach Paris, wo er als Lektor arbeitet und bis zu seinem Freitod 1970 lebt. Nach mehreren Psychiatrieaufenthalten stürzt er sich, nachdem er sich bereits von Frau und Kind getrennt hat, von einer Seinebrücke in den Tod.
Auch wenn er es als wünschenswert angesehen hatte, als Schriftsteller einen "richtigen Roman" zu Papier zu bringen, hat Celan ausschließlich Lyrik verfaßt. Lyrische Ausdrucksweise ist durch eine sprachlich sehr verdichtete, von intensiven Stimmungen und freien Assoziationen beherrschte Form gekennzeichnet. Celans Gedichte weisen dazu einen starken dialogischen Zug auf. Die "codierten Hilfeschreie" sind hier direkter, da ohne Umwege über eine literarische Figur, formuliert. Aber Celan hat durch strikte Vermeidung von allem abgenutzten Vokabular und gängigen Ausdrucksweisen für eine Verschlüsselung gesorgt, die seine "Botschaften" jeder vereinfachenden wie voyeuristischen Leseart entziehen.
Der Grundtenor vieler Gedichte Celans ist Einsamkeit. Aber sie sind durch ihre Ausrichtung auf ein Gegenüber auch vom Versuch zu ihrer Überwindung geprägt. Seine oft mit Kunstworten und scheinbar sinnlosen Wortkombinationen bis zur Unkenntlichkeit verschlüsselten Aussagen lassen äußerst intensive Bilder entstehen. Sie erscheinen manchmal wie "Stimmen" von jenseits einer unsichtbaren Grenze. Ich spüre in ihnen eine Welterfahrung, der das Vertrauen in das Einfache, selbstverständlich Menschliche zu fehlen scheint. Alles ist überspitzt, bis in die feinsten Nuancen des Wahrnehmens reflektiert und hinterfragt. Die schon früher aufgeworfene Frage stellt sich hier noch einmal mit Nachdruck: Wie kommt es zu so einem Fremd-sein unter den Menschen? Was ist die Ursache für dieses Leiden an der Welt? Hat es spezifisch jüdische, intellektuelle, männliche Ursachen? Inwieweit hat ihm das Verfassen und Veröffentlichen seiner Lyrik geholfen, diese zu überwinden?
Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, daß Celan Georg Büchner, und hier insbesondere den "Lenz", sehr verehrte und einmal in das Steintal im Elsaß kam, um Waldersbach mit dem Oberlin-Museum zu besuchen. Der Titel einer seiner wenigen Prosawerke, das "Gespräch im Gebirg", nimmt sogar bezug auf den berühmten Satz, mit dem Büchner die Erzählung eröffnet. Wie biographische Daten belegen, nahm die Wesensnähe zu Lenz in Celans letzten Lebensjahren konkrete, tragische Züge an. Doch Celan lebte, im Gegensatz zu Lenz, in einer Zeit, in der bereits ein breites, weitgefächertes Instrumentarium an psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsmethoden zur Verfügung gestanden hätte. Warum kam es trotzdem zum Freitod?
Paul Celans Leben liegt noch weitgehend im Dunklen. Sein umfangreicher Nachlaß mit persönlichen Aufzeichnungen und unzähligen, zum Teil nie abgeschickten Briefen liegt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach an der Lahn. Er unterliegt einer Sperrfrist bis zum Jahre 2020. Es entsprach dem Bestreben der Witwe Celans, von seinen privaten Zeugnissen so wenig wie möglich an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Dies führt unweigerlich zu einer Mythenbildung. Eine Stilisierung zur Märtyrerexistenz wird jedoch weder dem Dialogischen im Werk Celans gerecht noch seinem Versuch, über Gedichte "Wirklichkeiten zu entwerfen". Mit seiner Poesie, die er einmal als "Flaschenpost" bezeichnet hat, wollte er "Herzland" erreichen. Dorthin gelangten diese allerdings nicht immer, jedenfalls was die Rezension seiner Veröffentlichungen in Deutschland betrifft. Es sind schwere psychische Krisen überliefert, die durch verständnislose oder latent antisemitische Kritiken ausgelöst wurden.
Obwohl Celan viele Sprachen beherrschte, benutzte er ausschließlich deutsch, die Sprache der Mörder seiner Eltern und seines Volkes. Viele Publikationen fallen dazu in die Adenauer-Zeit, die von einem restaurativen Klima geprägt ist. In vielen Schaltstellen der Macht und des Kulturapparates sitzen wieder die Täter oder deren Helfer. Im hemdsärmeligen Geist von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder können seine sensiblen, feinfühligen Gedichte auch nicht die erhoffte Resonanz finden. Angesichts seiner Verlorenheit versucht er eine Rückbesinnung auf seine Herkunft. Aber Cernowitz, die Stadt, in der er aufgewachsen ist, heißt inzwischen Tscherniwzi und gehört zur Ukraine; es gibt dort  kein jüdisches Leben mehr. Er beschäftigt sich mit anderen Schriftstellern der Diaspora, darunter Kafka, unterhält eine intensive briefliche Beziehung mit Nelly Sachs und betont, vor allem in seinen späten Lebensjahren, seine jüdische Identität. Kurz vor seinem Tod unternimmt er eine Reise nach Jerusalem. In einer Rede vor dem Hebräischen Schriftstellerverband bekennt er "einen Begriff zu haben von dem, was jüdische Einsamkeit sein kann."
Unabhängig von allen politischen, religiösen und literarischen Aspekten ist Paul Celan für mich der Prototyp des männlichen Außenseiters. Einer, der aufgrund seines Soseins seinen Platz unter den Menschen nicht finden kann, selbst im eigenen Geschlecht nicht. Dazu ist er zu verletzlich, zu selbstreflexiv, zu sensibel, zu intellektuell, zu wenig abgrenzungs- und selbstbehauptungsfähig. Sein "Zuhause" ist die Sprache, ein grenzenlos freier, aber auch luftiger und letztendlich nur "virtueller" Aufenthaltsort. Selbst Frau und Kind können ihm nicht den nötigen Halt geben und dauerhaft in die menschliche Gemeinschaft einbinden. Vor dem Hintergrund einer derart zugespitzten Situation kommt das Verfassen seiner Lyrik einem kierkegaardschen "Offenhalten von Verzweiflung" gleich. In einem Brief bekannte der Dichter auch einmal freimütig, wie wenig es ihm in seinem Werk gelungen ist zu sagen, wie einsam er ist. Also war die "Flaschenpost" doch zu verschlüsselt, um den Absender entscheidend zu erleichtern?

Ausblick

Meine Auseinandersetzung mit dem Thema „Männer als Opfer“ entsprang dem Bedürfnis, die problematische Situation von Männern als Opfer von Gewalttaten, Mißhandlungen und Benachteiligungen aufzuzeigen und einige der damit einhergehenden Hintergründe zu benennen. Ihre Überwindung kann, so mein Resümee, nur gelingen, wenn eine sehr viel größere Anzahl von Männern bereit ist, die Einsamkeit ihrer Erfahrungen und die damit verbundene geschlechtsspezifische Ungleichbehandlung zu durchbrechen.

Ein derartiger Schritt bedeutet keineswegs, daß Männer in einen Wettbewerb mit Frauen um eine größtmögliche Akzeptanz als Opfer treten. Ich bin der Auffassung, daß es hier keine Monopolstellung geben kann. Entscheidend ist die konkrete Situation. Es sollte ein selbstverständliches Gebot von Humanität bedeuten, Menschen beizustehen, die in Not geraten sind und Anerkennung, Beistand und Fürsorge benötigen. Dieses Menschenrecht ist, wie meine Ausführungen versucht haben zu zeigen, für Männer jedoch alles andere als selbstverständlich. Deshalb gilt es dieses mit Nachdruck einzufordern.

© 2002 Gottfried Schenk

Der Text nimmt bezug auf folgende Publikationen:

Moritz. Zeitschrift für Männer in Bewegung, erschienen in Berlin von 1993 bis 1998, Auflage 2000, Vertrieb über Abonnenten und Buchhandlungen;
Joachim Lenz, Männer als Opfer von Gewalt und Mißhandlung, Handbuch Männerarbeit, Beltz 1996;
Jan Philipp Reemtsma, Im Keller, Der Spiegel Nr.1 - 3, 1997;
Walter Hollstein, Der Kampf der Geschlechter, Kösel 1993;
Matthias Matussek, Die vaterlose Gesellschaft, Der Spiegel Nr.47, 1997;
Matthias Matussek, Die vaterlose Gesellschaft, rororo Sachbuch, 1998;
Gisela Friedrichsen, Wie ein Stachel im Fleisch, Der Spiegel Nr.51, 2001;
Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther, Reclam 1987; Hans-Heinrich Reuter, Johann Wolfgang Goethe, VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 1990;
Georg Büchner, Lenz, Insel 1985; Georg Büchner, Werke und Briefe, Insel 1982;
Egon Günther, Lenz, Film von 1992;
Allgemeine Deutsche Biographie, Band 3, 1876, und Band 18, 1883;
Robert Musil, Die Verwirrung des Zögling Törleß, Rowohlt 1985;
Wilfried Berghahn, Robert Musil, Rowohlt 1963;
Paul Celan, Gesammelte Werke, Suhrkamp 1986;
Helmut Böttiger, Orte Paul Celans, Zsolnay 1996.