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Odyssee mit Gaudí

Odyssee mit Gaudi
Erzählung

Nütz doch die Gelegenheit, um Messi und Co mal in Aktion zu sehen, die brillanteste Fußballtruppe der Welt! Die Worte von Torsten rumoren mir im Kopf, weil sie brandaktuell sind: Aufgeregt gestikulierende Menschentrauben vor den Abfertigungsschaltern, in der Halle ein Durcheinander, das an die Tumulte auf den Börsenparketts der Wallstreet nach Bekanntgabe der Lehmanns Brothers Pleite erinnert. Flight AB 733 to Berlin-TXL has been cancelled due to the poor weather conditions - ein verrückter isländischer Vulkan spuckt Aschewolken aus, und ich sitze mit Tausenden von Gestrandeten am Aeroport de Prat in Barcelona fest. - Nein, ich will nicht nach Camp Nou, um mir ein paar Edelkicker anzuschauen. In vier Tagen wartet ein gewisser Dr. Tillak im Ferdinand-Braun-Institut für Halbleiterphysik auf mich. Postdocstelle mit der Chance auf Festanstellung, wenn ich den Zuschlag bekomme ist es wie ein Zwölfer im Lotto mit Zusatzzahl, ansonsten heißt es weiter Bewerbungen schreiben und beim Jobcenter Hartz-IV beantragen.
Eine Aussicht, die mich vor der riesigen Leuchtziffernanzeige mit ihrer verhängnisvollen Botschaft zur Salzsäule erstarren lässt. Denn Dr. Tillak wird ohne mit der Wimper zu zucken einen anderen Bewerber einstellen, wenn ich in vier Tagen nicht vor seiner Tür stehe. - Vielleicht hatte Torsten ja recht, ich hätte nicht fahren sollen; es stand zu viel auf dem Spiel, nicht nur wegen der Beziehung. Aber ich brauchte den Luftwechsel nach der Verteidigung meiner Doktorarbeit. Beachvolleyballcamp an der Costa Brava – sieben Tage lang nichts anderes tun als über den Sand sprinten, am Netz hochsteigen und Zauberbälle ins andere Feld schlagen. Nach der monatelangen Auszeit im Dienst der Wissenschaft endlich wieder den prallen Sonnenschein genießen, am Abend unter Palmen abhängen und den Blick entspannt übers Meer schweifen lassen ... - Wenn ich bloß nicht den einen Tag Barcelona drangehängt hätte. Den Tag für die Kultur. Dummerweise  der Tag, an dem mich die Aschewolke eingeholt hat!

Stabile Hochdrucklage über dem Atlantik, ein Tief über Skandinavien sorgt für konstante Höhenströmung von Island in Richtung Südosten: kein Ende des Ascheflugs über Mitteleuropa in Sicht. Fakten, die auch ein freundlich bemühter Mitarbeiter der Fluggesellschaft nicht aus der Welt zu schaffen vermag. Der uns für eine sichere Rückkehr lediglich den Weg über die Straße oder die Schiene zu empfehlen weiß. Worauf ich, um dem großen Ansturm an den Schaltern zuvorzukommen, sofort in Richtung Ausgang losstürme. Mit dem Rollkoffer im Schlepptau hektische Slalomfahrten zwischen Bergen von Gepäck und den ratlosen Gesichtern ihrer Besitzer absolviere, bis mich ein Laufband über einen kilometerlangen Verbindungsgang in die nächste Halle verfrachtet. Zum Bahnsteig der Stadtbahn. - In diesen Mammutflughäfen bin ich sonst immer ganz fickrig vor Aufregung und Abenteuerlust, aber jetzt ist dieser Aeroport zu einer Sackgasse geworden: Zu einem Labyrinth, dessen Ausgang ich erst noch finden muss.

Estació del Nord, der Ort, wo die Fernbusse abgehen. Gegen den Flughafen ein überschaubares Terrain, aber bereits am Infoschalter eine Riesenschlange, die meinem Optimismus einen herben Dämpfer versetzt. Ratlos treibe ich im Strom der Reisenden, in meinen viel zu warmen Sachen, die ich mir wegen der Klimaanlage im Flugzeug bereits angezogen habe. Schwanke zwischen Selbstvorwürfen und Schicksalsergebenheit. Ertappe mich, wie mein Blick sehnsüchtig zu einem der glitzernden Gefährte geht, die hoch über der Stadt ihre stoischen Bahnen südwärts pflügen. Spüre etwas von der Einsamkeit, die mit dem Allein-auf sich-gestellt-sein in einem Land mit fremder Sprache und Kultur einhergeht. Als plötzlich ein athletischer Zweimetermann in khakifarbenen Shorts und legeren Outdoor-Sandalen vor mir steht. Der erstaunt wissen will, warum ich nicht schon längst in Berlin bin! Raimund Fiedler, besser gesagt Ray, einer unserer Trainer aus dem Camp, wegen eines Gitarrenkonzerts in Barcelona geblieben und ebenfalls gestrandet.
Er ist schon weiter als ich. - Hier sind wir falsch, Celia, von hier gehen nur die innerspanischen Linien ab. Wir müssen zur Estació Central de Sants, bei der Eisenbahn sind unsere Chancen ohnehin sehr viel größer. Wird Ray jetzt zu meinem Glücksbringer? Tatsächlich ergattern wir nach stundenlangem Schlangestehen, bei dem wir uns kameradschaftlich abwechseln und gegenseitig mit Kaffeebechern versorgen, ein Zugticket nach Basel mit ICE-Anschluss nach Berlin. In zwei Tagen. Also bleiben uns zwei Tage und zwei Nächte in dieser schicksalshaften Stadt, für die wir im gotischen Viertel Quartier beziehen. Mit wenig Komfort aber angemessener Preislage. Zwei Tage, in denen mich Ray, Architekt und bekennender Barcelonafan, in die Wirkungsstätten des großen Antoni Gaudí einführen will.     

- Gaudí, das ist die Architekturvariante von Genie und Wahnsinn, Celia. Schau dir diese unglaublichen Formen an: Ausdruck des Gestaltungswillens eines begnadeten Künstlers, der die unermessliche Vielfalt der Natur mit dem abendländischen Kulturerbe zu vereinen versucht. Klassische Vorbilder verschmelzen mit der organisch gewachsenen Morphologie von Flora und Fauna, erheben so das Alltägliche und Profane der zeitgenössischen Architektur zu einem mystisch angehauchten Gesamtkunstwerk. Mit dem erklärten Ziel, der um sich greifenden Seelenlosigkeit und Uniformität des beginnenden Industriezeitalters zu begegnen. Rays Überschwänglichkeit wirkt ansteckend: Wir erkunden den Park Güell, dieses weltberühmte Refugium über den Dächern Barcelonas, und  ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Palmenreihen aus Natursteinen, Säulengänge wie verwunschene Grotten, am Eingang ein Lebkuchenhäuschen mit Fliegenpilzhaube und Zuckerguss. Dem eine Säulenhalle folgt, die der Erhabenheit griechischer Tempel in nichts nachsteht. Und überall bunte Mosaikgebilde aus Kachelsplittern, die wie Frühlingsblumen die Bauten bevölkern. Verrückt und faszinierend zugleich.
Mein Handy geht dazwischen. Torsten: Ob es mit dem Rückreiseticket geklappt hätte? Notfalls wäre er bereit, mit dem Auto zu kommen, um mich abzuholen ... Jetzt an diesem magischen Ort ist Berlin weit weg - so weit, dass ich mich bei meinen Erklärungen verhaspele und ein Wir preisgebe. Was sich weder rückgängig machen noch erklären lässt. Auch nicht durch meine eilige Versicherung, mit einem Bekannten aus dem Camp eine Notgemeinschaft eingegangen zu sein. Der Verweis auf den Akkustand und die sündhaft teuren Roaminggebühren erlöst mich von weiteren inquisitatorischen Nachfragen, aber ein quälender Nachgeschmack bleibt. Berlin war eben so weit weg und ist wieder so nah.
Rays beruhigende Hand auf meiner Schulter. - Komm, Celia, wir laufen zurück in die Stadt, Gaudís berühmte Wohngebäude warten noch auf uns. Von den drei Kreuzen des Kalvarienbergs geht es über halsbrecherisch steile Treppen bergab, stadteinwärts zur Untergrundbahn. Ins Dreta de L’Eixample, dem Viertel mit seinen streng geometrisch angelegten Häuserblocks, einem ehemaligen Wohnquartier des Geldadels und der Bauherrn Gaudís. Prächtig renovierte Fassaden mit gediegenen Schaufenstern und belebten Straßencafés laden zum Verweilen ein, aber ich bin mit meinen Gedanken woanders. - Wie klein und miserabel ich mich jetzt neben Ray fühle. Im Camp haben wir immer wieder verstohlene Blicke ausgetauscht, brannte in mir der Wunsch, mehr für ihn zu sein als nur eine von zweiundzwanzig Teilnehmerinnen. Und jetzt bin ich mit ihm allein, verhalte mich aber wie ein zappeliger Teenager. Weiche reflexartig seinen Blicken aus. Weil sie das Bild zerstören, das ich in mir herumtrage wie eine Ikone: Das einer begehrenswerten Celia, erfolgreich auf dem Court und beruflich auf dem Vormarsch. Bei der in Wirklichkeit alles auf der Kippe steht.

La Pedrera, Gaudí-Märchenland. Behelmte Schornsteine in Reih und Glied, Lichtschächte wie Tropfsteinhöhlen, zur Straßenseite eine Fassade, deren Formen an prähistorische Lehmbauten erinnert. Hinter der sich die gediegene Wohnkultur der aufstrebenden Bürgerwelt des frühen zwanzigsten Jahrhunderts verbirgt: Die Casa Milà gleicht einer Trutzburg mit exotischer Dachlandschaft, auf der mächtige Kaminfiguren nach allen Seiten Ausschau halten. Um die Feinde von dieser heilen Welt abzuwehren? Zeugnisse einer längst vergangenen Epoche, die meinem Hunger nach Beständigkeit neue Nahrung geben. Weil sie mir vor Augen führen, wie sehr mein Leben von unzähligen Variablen gekennzeichnet ist, aber über viel zu wenige Konstanten verfügt. Konstanten, wie sie Ray offensichtlich vorzuweisen hat. Seine Augen, die etwas vom strahlenden Blau des katalanischen Himmels angenommen haben, verraten beim Gang durch die Ausstellungsräume eine merkwürdige Unruhe. Weil sie mein Abschweifen bemerken, die Mühe, seinen Ausführungen über die Geheimnisse der Gaudíschen Parabolbögen zu folgen? Oder ist auch bei ihm mehr im Spiel? – Wie sehr beneide ich ihn um einen Beruf, der so viele Aspekte des Seins umfasst. Es nicht auf trockene Theorien und aseptische Formelwelten reduziert. Physik war eben eine meiner vielen Vernunftentscheidungen, genauso wie Torsten.
Gedanken, die nicht zur Helligkeit der Stadt passen. Auch nicht zu dem Mann, der allmählich hinter dem Sportler zum Vorschein kommt und sich als einfühlsam und hochgebildet offenbart. Die Tour geht weiter, über den Passeig de Gràcia auf die andere Straßenseite, zum „Knochenhaus“. Das eigentlich Casa Batlló heißt, nach seinem Bauherrn. Was geschrieben einen Zungenbrecher vermuten lässt, klingt jedoch gesprochen französisch leicht. Eine Leichtigkeit, die ihre Entsprechung in der Architektur findet und mich gefangen nimmt. Anders als die Casa Milà mit ihrer jenseitig anmutenden Formensprache ist das Haus mit den knochenförmigen Streben am Erker ein Lustgarten der Sinne. Ein farbenprächtiges Gesamtkunstwerk, in dem jedes Detail vom unbändigen Willen seines Schöpfers zeugt, die Monotonie und Zweckgebundenheit der herkömmlichen Architektur zu überwinden. Über dessen Fassade ein Schuppendach thront, das in ein Zwiebeltürmchen mit vierarmigem Kreuz ausläuft und eine Sichtachse zu den Türmen der Sagrada Familia freigibt. Dem unvollendeten Hauptwerk des Meisters. Eine Schar himmelwärts strebender steinerner Lanzen, die in eine andere Dimension verweisen und mir die Fügungen des Tages in einem neuen Licht erscheinen lassen.

Deshalb will ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen über isländische Lavapartikel und stornierte Flüge. Auch wenn sie mir den Weg gewiesen haben zu den Geheimnissen dieser unergründlichen Stadt und zu einem Mann, dessen Gegenwart alles Kommende mit einer neuen Schwerelosigkeit zu überziehen beginnt. Wir durchstreifen die Ciutat Vella, setzen zum Tagesausklang über auf die Rambla del Mar. Über Mitteleuropa treibt immer noch die Aschewolke, doch hier trübt kein Wölkchen den makellos in die Dämmerung fallenden Horizont. Der wie unsere Stimmung von mediterraner Gelassenheit erfüllt ist. An den Piers das majestätische Schaukeln der riesigen Fährschiffe, untermalt vom leisen Vibrieren der Holzplanken, die geduldig das endlose Defilee der Nachtschwärmer ertragen. Das Handy ist in den Rollkoffer verbannt, Berlin ein weit entfernter Ort jenseits der Wasserlinie. Jetzt gilt es die Flügel auszubreiten und den Wind aufzunehmen, um mich tragen zu lassen. Der Ernst des Lebens holt mich noch früh genug ein!

© Gottfried Schenk 2011