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Textauszug aus “Die Verweigerung” (Kapitel  9)

Rosner hielt erst wieder an, als er den nahegelegenen Stadtpark erreichte. Zitternd und schwer nach Atem ringend lehnte er das Fahrrad an eine Parkbank und legte sich daneben ins Gras. Die wilde Flucht hatte seine Kräfte erschöpft.
Die Fahrt durch die Straßenschluchten hatte er wie in Trance zurückgelegt. Häuser, Autos, Passanten waren an ihm vorbeigeflogen, Straßencafés, Verkaufsstände und Erfrischungsbuden mit ihren Menschentrauben gleich Vexierbildern an ihm vorübergeglitten, als wären es Erscheinungsformen einer fremden Welt. Wie durch ein Wunder war er mit niemandem zusammengestoßen und bei seiner rasenden Fahrt nicht zu Sturz gekommen.
Erst langsam begann er, seine Umgebung wieder wahrzunehmen.  Der Duft frischen Grases rührte an seinen Lebensgeistern, durch das unbekümmerte Vogelgezwitscher aus dem Baum über ihm verlor sich seine schlimmste Verstörtheit. Bizarre Wolkengebilde zogen am Himmel entlang, verdeckten in kurzen Intervallen die schon weit nach Westen abgesunkene Sonne, ließen beim Hineinschauen ein dramatisches Spiel von Hell und Dunkel erkennen. Hier, an diesem beschaulichen Ort, so schien es, war die Welt noch in Ordnung.

Rosner verfiel in einen Dämmerzustand.
Das Erlebte, dem er entronnen war, sank zurück in ein Wirrwarr von grauenhaften Bildern und Ängsten. Je unbestimmter sie wurden, desto erträglicher erschienen sie ihm. Er versuchte einfach zu vergessen. Es waren Ereignisse von solcher Entsetzlichkeit, dass sie sich jedem klaren Gedanken entzogen.
Lange lag Rosner mit an sein Gesicht gepressten Händen da, bis die Atemzüge ruhiger wurden und das Herz wieder in einen erträglicheren Rhythmus fand. Nur noch einzelne Erinnerungsfetzen durchzogen seine in dumpfes Brüten abgesunkene Fantasiebilder, sporadisch hochschnellende Angststöße erschütterten ihn von Zeit zu Zeit in seinem Halbwachzustand.

Konnte er jemals jemandem von seinem Erlebnis berichten?
Niemals würde es Rosner wagen, Begebenheiten aus seinem Leben zu offenbaren, die mit tieferen und an dunkle Stellen rührenden Gefühlszuständen verknüpft waren, oder selbst auch nur Andeutungen von seinen Gedanken und Stimmungen preiszugeben, in die er heimlich verfiel. Er war es gewohnt, sein eigentliches Erleben als ein von der normalen Welt abgetrenntes Geschehen zu betrachten, zu dem er niemandem Zugang gewähren konnte. Alles, was über die gängigen Umgangsweisen hinausging, blieb als sein Eigenstes fest in seinem Innersten verborgen.
Was er besprach und als mitteilbar ansah, war geringfügig und berührte sein tieferes Erleben nur am Rande. Sein Leben bestand aus Schweigen, bewegte sich zwischen dürren Worten und sprachlosen Gefühlsbildern. Rosner war es gewohnt, in der Einsamkeit seiner streng geheimen und versiegelt gehaltenen Gedanken und Erlebnisse eingeschlossen zu sein.

Die Parkwiesen waren voll besetzt.
Überall in dem hochstehenden, schon gelblich verfärbten Gras hoben sich entkleidete Körper ab, die einzeln, zu zweit oder in kleinen Gruppen zusammenliegend auf die Sonneneinstrahlung ausgerichtet lagerten. Paare ruhten innig aneinandergelehnt oder lagen umschlungen da, Familien mit Kindern picknickten im Schatten der Bäume, und mitten auf der großen Wiese zu seinen Füßen saß eine Gruppe junger Mütter hinter einer Wagenburg von Kinderwagen zusammen.
An einem provisorisch auf hohen Stangen aufgebauten Netz wurde mit großem Enthusiasmus Volleyball gespielt. Der helle Ball flog, vor dem Dunkelgrün der dahinterliegenden Laubbäume gut erkennbar, in weiten Bögen hin und her, von den Spielern mit ausgestreckten Armen und nach oben geöffneten Handflächen geführt oder mit zusammengedrückten Unterarmen aus der elastischen Schrittstellung heraus angenommen. Wenn eine der Mannschaften zum Abschluss eines Spielzugs mit einem Angriffsball erfolgreich war, brachen die Spieler wie auch die zahlreich um das Feld gruppierten Zuschauer in lebhaften Beifall aus.
Der Spielablauf war ihm rasch geläufig. Nach der Ballannahme wurde einer der am Netz postierten Akteure mit einem weiten bogenförmigen Zuspiel bedacht, das dieser nach einem kurzen, beherzten Anlauf auf dem Höhepunkt eines gewaltigen Sprungs scharf in das andere Feld zu schlagen versuchte. Seine Kontrahenten hielten dagegen, indem ein oder zwei Spieler am Netz hochsprangen und mit langgestreckten Armen eine Barriere bildeten, um den Ball abprallen zu lassen und unerreichbar ins gegnerische Feld zurück zu befördern.
Gebannt folgte Rosner den Ballwechseln, die von Zeit zu Zeit eine Unterbrechung fanden, wenn die Mannschaften sich für eine kurze Pause am Spielfeldrand niederließen. Warme Sonnenstrahlen begannen ihn behaglich einzuhüllen und aufzuwärmen; kurz entschlossen folgte er dem Beispiel der Anderen und legte seine Kleidungsstücke ab.

Während er den Blick über seinen nackten Körper gehen ließ, wurde ihm deutlich, wie wenig anziehend sein Anblick sein musste. Die Muskulatur war hager und eingefallen, und eine ungesunde, blässliche Haut überspannte die kraftlos aussehenden Arme und Beine. Wie offensichtlich war der Gegensatz zu den geschmeidigen und wohlgebräunten Spielern auf der Wiese - oder gar zu den reizvollen Frauenkörpern, die überall um ihn herum im Gras lagen und ein Sonnenbad nahmen?
Rosner hatte allen Grund, den Aufenthalt in der prallen Sonne zu vermeiden. Sowohl schnelle Hautrötungen als auch körperliches Unwohlsein waren die Folge, wenn er sich allzu lange der direkten Sonnenbestrahlung aussetzte. Und da er selbst, weder in Sportstätten noch im Freien, keinerlei körperliche Ertüchtigung betrieb,  war es zwangsläufig, dass seine helle Haut blass blieb und der Körper als Folge der fehlenden sportlichen Betätigung ein schwächliches und wenig anziehendes Aussehen zeigte.
Sogar an den schönsten Sommertagen zog er sich zurück in sein Lesezimmer, wo er, anders als unter den ausgelassenen und lauten Menschen draußen im Freien, zu den schönen und unbeschwerten Gedanken fand, die ihn von seiner Unruhe und den quälenden Verlorenheitsstimmungen befreiten. Oft genügte ein einziger Satz aus einer Lektüre, um abzuschweifen und der Beengtheit seiner Verhältnisse entfliehen zu können.
Er vergaß dann den Ort, die Zeit und die Umstände, unter denen er lebte, und die damit verbundenen Bedrängnisse.

Die Sonne verschwand plötzlich hinter einer ausgedehnten Wolkenbank.
Die dadurch einsetzende Abkühlung veranlasste Rosner, sich wieder seine Kleidungsstücke überzustreifen. Ja, so fühlte er sich wohler. Eingehüllt in die schützende Haut seiner Kleidung, nur Gesicht und Hände unbedeckt, blieb sein anstößiger Körper allen Zublicken entzogen und selbst seiner eigenen argwöhnischen Beobachtung verborgen.
Warum erging es keinem Anderen so wie ihm? Überall zeigten sich gutaussehende und selbstbewusst auftretende Menschen, die unbeschwert den Sonnentag im Freien genossen.
Und von allen Seiten traten herausfordernde Frauenkörper an ihn heran. In welche Richtung sein Blick auch ging, er fiel unweigerlich auf ein Paar wohlgeformter nackter Brüste, glitt über betörend geschwungene Hüften und drang, ohne dass er Widerstand dagegen zu entwickeln vermochte, weit bis in geöffnete Schenkel vor.
Besonders nah, so dass er ihr dunkles, haariges Geschlecht deutlich erkennen konnte, verharrte eine ungewöhnlich stark gebräunte Frau regungslos in der Sonne. Das ausgebleichte Blond ihrer Haare betonte die Bräunung der Haut, die sich in makelloser Manier über den ganzen Körper spannte. Weder an den Brüsten noch am Gesäß waren Aufhellungen als Folge von Badebekleidung zu erkennen. Dunkle Brustwarzen ruhten auf leicht nach den Seiten hin ausladenden Hügeln, die in dem ganzen Kurvenverlauf vom Nacken bis zu den Fesseln eine betörende  Erhebung abgaben.
In Rosners bis zum Zerreißen angespannter Gemütsverfassung schlugen diese Ausblicke wie Keulenhiebe ein, denen er sich nicht entziehen konnte und immer wieder, wie süchtig, hingab.

Eine Frauenstimme riss ihn aus seiner Verwirrung.
,,Hallo Daniel!"
Verstört blickte Rosner in ein von einer dunklen Sonnenbrille weitgehend verdecktes Gesicht.
Die Frau stand genau in der Richtung, aus der die Sonneneinstrahlung kam, und war deshalb nur schwer zu erkennen. Ihre Anrede hatte ihn während seines gierigen Hinstarrens auf die nackte Frau überrascht, er war dabei zusammengezuckt und hatte sich ertappt gefühlt. Seine Empfindungen waren von aufwühlendem sexuellem Begehren und gleichzeitigen Ohnmachtsgefühlen bestimmt gewesen.
Er hatte sich vorgestellt, in das offen ausliegende Geschlecht einzudringen, den Gedanken jedoch schnell wieder verworfen. Stattdessen nahm ein Ekel vor dem fremden Körper überhand, als dessen Folge sich bedrängende Abwehrgefühle einstellten. Ansätze von wohligem Lustempfinden waren Hassgefühlen gewichen, die in seinem Inneren zu wühlen begannen.
Hass gegen sich selbst, Hass gegen die unerträglich aufreizende Person vor sich und die fremden Menschen um ihn herum - ein Wirbel von Unruhezuständen hatte begonnen, sich bedrohlich aufzuschaukeln. Aus diesem verhängnisvollen Kreislauf riss ihn die Anrede heraus

© Gottfried Schenk 1991