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Gehversuche
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An einem kalten, regnerischen Novemberabend gibt es mit Sicherheit einen beschaulicheren Ort als den engen, dunklen Hinterhof eines Therapiezentrums in der Kreuzberger Stresemannstraße. Das Umfeld ist geschichtsträchtig, ein paar hundert Meter entfernt steht die Ruine des Anhalter Bahnhofs, aber für Rainer Lorentz liegt gerade darin das Brüchige und Vergangenheitsbeladene der Gegend. Die Mauer, deren übermannshohe Plattensegmente hier die Straße bis vor wenigen Jahren noch zur Sackgasse gemacht hatten, ist zwar längst verschwunden, jedoch von den Großbaustellen am Potsdamer Platz abgelöst worden, was das Viertel nicht unbedingt einladender macht. Lorentz, der auf dem Weg zur konstituierenden Sitzung einer therapeutisch angeleiteten Männergruppe ist, sieht darin etwas Gleichnishaftes für seine Situation: Überall Baustellen, Halbfertiges, nur schlecht vernarbte Wunden. Mit Wehmut denkt er an das Jahr der Maueröffnung zurück, als hier so etwas wie Aufatmen, ja Befreiung von den Lasten der Vergangenheit zu empfangen gewesen war.
Sein Gang zum Therapiezentrum führt in den zweiten Hof. Vorbei an Mülltonnen, abgestellten Autos; direkt vor dem Quergebäude ist eine größere Anzahl Fahrräder mit Bügelschlössern am Geländer angekettet. Ob das die Fortbewegungsmittel der anderen Gruppenteilnehmer sind? - Bei der Jahreszeit? Vielleicht erwartet ihn ja eine Runde verbiesterter Ökos, mit denen er wenig anfangen kann? Unsicher nimmt er die letzten Stufen zum obersten Stockwerk. - Ja, die perlgraue Stahltür ganz hinten steht offen, hier muss es sein! Im Vorraum drängt sich bereits das Gros der Teilnehmer, die allerdings seinen Befürchtungen bestätigen. Ob er in dieser Runde von muffeligen, äußerlich wenig ansprechenden Männern nicht fehl am Platz ist?
Drinnen im Sitzungsraum fühlt er sich dann wohler. Die helle Weite des Zimmers, in dem außer einem Stapel Schaumstoffmatratzen und bunten Sitzkissen nichts herumliegt, wird durch ein paar große Pflanzen in den Ecken angenehm aufgelockert. Lorentz mag Dachwohnungen, die heimelige Atmosphäre von Säulen und Dachschrägen verbindet sich für ihn mit einem Gefühl von Geborgenheit und Nestwärme. Hier sind sie also, zwölf Männer in einem großen Kreis, einander fremd, vorsichtig die Nachbarn und Gegenüber  aus den Augenwinkeln begutachtend. Die steife, betretene Atmosphäre löst sich erst, als die beiden Gruppenbetreuer mit der Vorstellung beginnen. Einer nach dem anderen soll erzählen, warum er gekommen ist und was die Beweggründe zum Mitmachen sind. Lorentz, der weit hinten sitzt und noch viel Zeit hat, bis er an der Reihe ist, verfolgt die Ausführungen mit gespannter Erwartung.

Beim Zuhören hat er jedoch immer wieder den Eindruck, jedem hier ginge es eigentlich gut und man mache in der Gruppe nur so aus Spaß mit. Warum bekennt denn niemand offen, was seine wirklichen Probleme sind? Oder weiß niemand um die Lasten und Einsamkeiten, die er schon seit Jahren mit sich herumschleppt? Als einer bei seinen Ausführungen stark zu schwäbeln beginnt, kommt ein Anflug von Heiterkeit auf. Das Bild der Männergruppe aus dem Film „Der bewegte Mann", den er vor ein paar Tagen gesehen hat, zieht vor seinem inneren Auge auf. Nur mühsam kann er sich beherrschen, nicht lauthals aufzulachen. Ob Lothar den Film gesehen hat und mitbekommt, dass er mit seinem Akzent unfreiwillig für eine Lachnummer sorgt?
Die Szene macht Lorentz aber auch deutlich, dass er, außer der Episode aus dem „Bewegten Mann", eigentlich überhaupt nichts über Männergruppen weiß. Deshalb hat er, abgesehen von einigen vagen Erinnerungen an die Diskussionsrunden und Selbsterfahrungszirkel der Frauenbewegungszeit, keine klare Vorstellung, was ihn hier erwarten könnte. Sollte das allerdings eine verklemmte Quatschrunde wie im Film sein, dann, das nimmt er sich fest vor, wird er sofort aufhören.
Aber was dann? Seit dem Beziehungsdesaster mit Rita ist er mit seinem Latein am Ende. Was bleibt da anderes übrig, als einen Schritt über festgefahrene Grenzen hinaus zu wagen? Lange genug hat er die Schuld bei anderen gesucht, alle möglichen Lebenskonzepte ausprobiert, in schlaflosen Nächten einem ausuferndem Selbstmitleid gefrönt. Vor allem, das spürt er mit großer Deutlichkeit, muss er aus seiner Isolation als Mann heraus. Ein trostloses Wochenende mit Panikattacken und totaler Kraftlosigkeit hatte schließlich den letzten Anstoß gegeben, sich auf die Anzeige in der TAZ zu melden - allerdings mehr aus der nackten Not heraus als aus Überzeugung.

Kurt, ein stämmiger, dunkelhaariger Bayer mit Vollbart, dessen verschlossener Gesichtsausdruck ihm schon im Vorraum nicht gerade angenehm aufgefallen ist, lässt Lorentz zum ersten Mal aufhorchen. Er erzählt von seinem gewalttätigen Vater, von seinen Ängsten, die er als Kind auszustehen hatte, als die ganze Familie unter den Ausbrüchen des Tyrannen zittern musste. Seine Stimme bleibt dabei ohne besondere Regung, doch seine Schilderungen sind intensiv genug, um sich in die Situation des Mannes einfühlen zu können.
Als er selbst an der Reihe ist und zu sprechen beginnt, hat seine Nervosität schon etwas abgenommen. Seine Sicherheit hält allerdings nur so lange an, wie er bei nüchternen Aufzählungen und einigen vorgefassten Bekenntnissen bleibt. Doch als er seine Situation als getrennt lebender Vater erwähnt, beginnt seine Stimme zu zittern. Der Impuls wird spürbar, etwas von seinen wirklichen Gefühlen mitzuteilen. Es war ja der Verlust seines vierjährigen Sohnes Moritz, der ihn nach der Trennung von Rita aus der Bahn geworfen hat. Moritz, seinen kleinen Liebling, verloren zu haben, ihn nicht einmal mehr wenigsten an den Wochenenden in die Arme schließen zu können, damit kommt er nicht zurecht. Aber wie soll er das nagende Gefühl von Unsicherheit überwinden, sich hier mit seinen Bekenntnissen zu entblößen?
Einen kurzen Moment lang glaubt er, in ein, zwei Gesichtern ein interessiertes Aufmerken zu sehen. - Ja, vielleicht gibt es hier in der Gruppe ähnliche Fälle? Die Erleichterung wäre riesengroß, mit seiner schlimmen Erfahrung nicht mehr alleine dazustehen. Doch er bringt den Mut nicht auf, direkt nachzufragen. Die Vorstellungsrunde geht weiter, und nachdem alle Formalitäten besprochen sind, ist der erste Sitzungsabend bereits zu Ende. Trotz aller Verunsicherungen kann er das Therapiezentrum mit dem Gefühl verlassen, einen ersten kleinen Schritt aus seiner Isolation heraus geschafft zu haben.

Als sich die Gruppe ein paar Monate später nach dem üblichen Aufwärmtraining in Kleingruppen aufteilt, sind sie sich schon etwas vertrauter geworden. Lorentz hat die anfänglichen Entspannungsübungen bereits zu schätzen gelernt, bei denen sie zur Musik frei durch den Raum tanzen oder einfach herumlaufen, oft mit geschlossenen Augen, was hilft, den Instinkten wieder zu vertrauen. Dabei der Stimme freien Lauf zu lassen, also in allen möglichen Tonlagen zu quietschen, zu röhren oder einfach ungehemmt zu brüllen, nimmt eine Menge vom Alltagsfrust, so wie es die Atmosphäre in der Gruppe auflockert. Ernsthafte Schwierigkeiten bereitet ihm allerdings die Vorgabe, andere Teilnehmer mit Grimassen und provokativen Gesten zu reizen und herauszufordern. Ihm ist zwar niemand sonderlich sympathisch, aber eine ausgesprochene Abneigung verspürt er auch nicht.
Insgeheim empfindet er den meisten Leuten gegenüber nach wie vor eine große Skepsis. Es sind nicht nur die sanyasin-gelben und -roten Jeans, die unförmigen Helme und schmuddeligen Trikots der Fahrradfreaks, oder die chronisch dreckigen Socken von Rick, die ihn abstoßen. Auch ihrer Sprache und den Umgangsformen, die ihm wenig ansprechend, ja mitunter distanzlos erscheinen, kann er nichts abgewinnen. Doch als noch schwerwiegender empfindet er, dass sich bisher noch niemand wirklich zu erkennen gegeben hat und etwas von dem preisgibt, was sich hinter der Fassade von flapsigen Sprüchen und Dreitagebart-Männlichkeit verbirgt. Selbst Kurt, der eigentlich so hoffnungsvoll begonnen hatte, scheint sich den stereotypen Verhaltensmustern angepasst zu haben.
In einer solchen Atmosphäre widerstrebt es ihm, sein Innerstes nach außen zu kehren. Oder soll er alle Hemmschwellen überwinden, um dann mit seinen Problemen dazustehen wie ein bunter Hund? Etwas von seinen verkorksten Liebesbeziehungen erzählen oder seine beruflichen Schwierigkeiten offenbaren? Dass er als freier Journalist inzwischen tief in der Krise steckt und sich mit Taxifahren finanziell über Wasser halten muss! Im Grunde ist es das gleiche alte Lied mit Männern: Er nimmt sich als anders wahr, also versteckt er sich. Kein Wunder, dass seine Vorurteile ungebrochen bleiben: Männer sind gefühlsreduziert, können sich nicht von innen heraus artikulieren, haben keine Umgangsformen und auch keinen Geschmack. Deshalb ist es kein Zufall, dass er zwar viele Freundinnen hat, aber im Grunde keinen einzigen richtigen Freund. Insgeheim trägt er sich bereits mit dem Gedanken, beim nächsten Zahltag die Gruppe zu verlassen.

Der Schreck sitzt tief, als ihnen Roland, einer der beiden Gruppenbetreuer, die Übung nach dem Aufwärmtraining erklärt. Sie sollen Dreiergruppen bilden und jeweils denjenigen, der auf der Matte auf dem Rücken liegt, mit Stupsen, Kitzeln und Zwicken aus der Reserve locken. Assoziationen aus seiner Schulzeit kommen hoch, und mit ihnen Erinnerungen an die vielen Auseinandersetzungen und Raufereien, die in ihrem Haupttenor von Niederlagen, Demütigungen und Rückzug begleitet waren.
In dem Moment jedoch, als er an der Reihe ist und den Platz auf der Matte einnimmt, sind seine Ängste überraschend verflogen. Er macht das Spiel mit, und siehe da, es gelingt ihm, sich zu wehren. Geschickt hält er die anderen in Schach, ja attackiert seine Kontrahenten mit zunehmendem Erfolg, allen Störfeuern im Kopf zum Trotz. Obwohl ihm die beiden Männer körperlich überlegen sind, kommt keine Panik auf. Selbst die hautnahen Berührungen mit den schweißnassen Körpern, das unmittelbare Spüren der kratzbärtigen Wangen und der Hauch des kräftigen Atems, der ihm ins Gesicht schlägt, bereiten ihm keine Probleme.
Vielleicht, geht es ihm am Ende der Übung durch den Kopf, war seine bisherige Abwehr gegen die körperliche Nähe von Männern eine Folge seiner einseitigen Ausrichtung auf Frauen? Bei einem Mann ein bisschen Nähe zuzulassen heißt ja nicht gleich, schwul zu sein? Als sie dann im Kreis sitzen, um sich über ihre Erfahrungen auszutauschen, ist allerdings die alte Distanz wieder da. Trotzdem bleibt das ermutigende Gefühl zurück, eine Barriere durchbrochen zu haben.

Den Beginn der Gruppensitzung ein halbes Jahr später eröffnet Roland mit den Worten, dass Joachim und Chris Probleme miteinander hätten und ihren Konflikt vor der Gruppe austragen möchten. Da niemand Einwände vorbringt, beginnt die Auseinandersetzung gleich nach dem Entspannungsteil, bei dem sie zu den eindringlichen  Rhythmen einer afrikanischen Percussionsmusik in einer langen Reihe durch den Raum getanzt sind. Lorentz musste dabei an Kriegstänze oder ähnliche rituelle Stammesübungen denken, mit der Vorstellung, dass so ein tranceartiges Gruppenerlebnis tatsächlich viel von der Angst vor einem bevorstehenden Kampf nehmen kann. Vielleicht genau die richtige Einstimmung für die beiden Kontrahenten?
Joachim, von Beruf Arzt und fast zwanzig Jahre älter als Chris, ist als erster dran. Er beginnt mit den Worten, schon seit längerem Probleme hier in der Gruppe zu haben, weil diese so stark von seinem Kontrahenten dominiert wäre. Mit viel Geschick verstände dieser es, sich in Szene zu setzen, und würde ungeheuer viel Raum einnehmen, ja sich mit seinem Helfersyndrom in den Vordergrund drängen. Seine Erregung nimmt dabei hörbar zu, die Stimme wird zunehmend gepresster, gerät schließlich ins Stocken; er verliert den Faden und muss immer wieder aufgefordert werden, seinem Gegenüber ins Gesicht zu schauen. Für Lorentz ist es ein eigenartig berührendes Erlebnis, einen Mann in solch gestandenem Alter derart aufgelöst, ja hilflos und zu erleben. Er wird aufgefordert, seine Wut mit Faustschlägen auf das vor ihm liegende Kissen zum Ausdruck bringen. Joachim versucht es, doch was für ein jämmerliches, kraftloses Gehaue da zustande kommt! Keine Spur von echter Wut, nicht einmal im Ansatz ein explosives Sichbefreien-wollen. Nein, die Schläge, die  mit angstvoll nach innen gedrücktem Daumen auf den Schaumstoff niedergehen, wirken gehemmt und abgebremst, noch bevor sie ihr Ziel erreichen.
Chris gibt provozierende Kommentare zurück. Ja, die passive und leidende Art Joachims würde ihm schon seit längerem schwer auf die Nerven gehen. Besonders seine Art, sich selber aus der Gruppe auszuschließen, indem er sich, wie schon so häufig geschehen, in eine Ecke setze, in die Luft starre und bei Übungen nicht mitmache, empfände er als einen Ausdruck von larmoyanter Hilflosigkeit, die ihn aggressiv machen würde. Er fordert ihn auf, sich den Raum in der Gruppe einfach zu nehmen anstatt zu jammern. Das sei „easy" und „no problem"! Seine mit englischen Ausdrücken gespickte Redeweise bringt Joachim urplötzlich aus der Reserve. - Was er sich einbilden würde, schreit er Chris an, ob er sich für den großen Klugscheißer halten würde? Er beginnt schwer zu atmen, zittert am ganzen Körper. Für einen Augenblick ist die Gefahr spürbar, die beiden könnten aufeinander losgehen. Aber sie bleiben wie festgenagelt auf ihrer Matte sitzen, lehnen auch den Vorschlag der Therapeuten ab, den Streit mit Boxhandschuhen auszutragen.
Nach einem weiteren verbalen Schlagabtausch dreht Joachim den Spieß um und provoziert Chris seinerseits. Ob er sich mit seiner übertriebenen Hilfsbereitschaft für den großen Erlöser und Menschheitsbeglücker halten würde? „Bist du etwa Jesus Christus?", höhnt er! Chris, dessen feminines Gesicht mit den halblangen Haaren und dem Vollbart wirklich etwas Jesusartiges an sich hat, zuckt sichtlich zusammen. Als ob es in ihm Klick gemacht hätte, sinkt sein Kopf nach unten und verfällt mit geschlossenen Augen  in betroffenes Schweigen.
 Als er wieder zu sprechen beginnt, hat seine Stimme alles Provozierende verloren. Seine Worte kommen leise und betreten: Ja, er ertrüge die stumm-leidende Art Joachims nicht, sie erinnere ihn an seinen Vater, der bei Konflikten nie laut oder aggressiv geworden wäre, aber entsprechende Regungen seiner Kinder immer missachtet und mit einer stillen Vorwurfshaltung bestraft hätte. Dermaßen verunsichert und in seinen Reaktionen in Frage gestellt, hätte er ständig unter Schuldgefühlen gelitten und seine spontanen Impulse unterdrückt, dagegen aufzubegehren. Schließlich hätte er sogar seiner Schwester nachgeeifert, die viel mehr akzeptiert worden wäre als er, und sich gewünscht, selbst ein Mädchen zu sein. Dadurch wäre er in der Schule zum Außenseiter geworden und überhaupt in eine innere Einsamkeit geraten, die ihm heute noch schwer zu schaffen machen würde. Bei den letzten Worten sinkt sein Kopf noch tiefer nach unten, er verstummt und beginnt leise zu weinen.
Eine angespannte Stille breitet sich im Raum aus. Alle wirken von der Entwicklung überrascht, ja irgendwie überfordert. Von draußen dringen sporadische Verkehrsgeräusche herein, aus einer Hinterhauswohnung ist gedämpftes Klavierspiel zu hören, die knapp über den Hausdächern stehende Abendsonne wirft eigenartig verzerrte rötliche Rechtecke an die rückwärtige Wand. Lorentz verspürt den Impuls, auf Chris zuzugehen und ihn in den Arm zu nehmen, vermag aber seine Unsicherheit nicht zu überwinden. 
Schließlich meldet sich Joachim wieder zu Wort. Sein Vater wäre Pastor gewesen, presst er in einem Zustand äußerster Aufgewühltheit heraus, und hätte ihn nach strengen christlichen Grundsätzen erzogen. Durch das Gebot, nach dem Prinzip der Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit zu handeln, sei er nicht in der Lage gewesen, sich gegenüber anderen Kindern zu behaupten. Obwohl körperlich ebenbürtig oder überlegen wäre er den Anfeindungen und Angriffen seiner Schulkameraden wehrlos ausgeliefert gewesen. So habe man ihm auf dem Heimweg aufgelauert, ihn gefangengenommen und manchmal an einen Baum gefesselt und sadistisch gequält. Die Misshandlungen hätten ihn zutiefst gedemütigt und ein unstillbares Rachebedürfnis entstehen lassen, das sein ganzes bisheriges Leben beherrscht hätte. Trotzdem könne er immer noch keine echte Trauer oder Wut empfinden, und nicht einmal weinen. Sein Inneres fühle sich in solchen Situationen wie erstarrt an.

 

Auch wenn Joachim in seinem Gefühlsausdruck etwas begrenzt und hilflos wirkt, gehen Lorentz seine Offenbarungen sehr nahe. Sie versetzen ihn zurück in die eigene Schulzeit, rühren an all den Wunden, die ihm in vergleichbaren Situationen geschlagen wurden. Gut, er hatte sich zwar nach Kräften verteidigt, war den meisten Kindern aber körperlich unterlegen gewesen und dazu noch als Außenseiter allein auf sich gestellt. Aber hatte er nicht seine geistige Überlegenheit arrogant ausgespielt, und dann, wenn es ernst wurde, häufig gekniffen - sogar einmal vor einem Mädchen aus der Parallel-Klasse, was ihm Schimpf und Schande eingebracht hatte? Trotzdem, die Verzweiflung, so oft ohne ersichtlichen Grund überfallen worden zu sein und von niemanden, auch nicht von den Lehrern oder seinen Eltern und Geschwistern, Beistand erhalten zu haben, hatte sein Grundvertrauen schwer erschüttert.

Stumm im Kreis vor den beiden Männern sitzend fühlt er sich ihnen auf eine eigenartige Weise verbunden. Denn unbewusst führen sie ihm einen Teil seiner eigenen Geschichte vor Augen. Das von Vertretern seines Geschlechts zu hören, die er bisher, bis auf wenige Ausnahmen, als emotional verschlossen, ja sogar als einfach gestrickt wahrgenommen hat, lässt in ihm Hoffnung aufkeimen. Wie oft hat er sich so etwas ersehnt, es aber nicht für einlösbar gehalten?

Ein gemeinsames Wochenende auf einem Bauernhof in der Mark Brandenburg soll Gelegenheit zu einer intensiveren therapeutischen Arbeit geben, die nicht wie sonst durch die lange Pause zwischen den wöchentlichen Sitzungen unterbrochenen ist. Lorentz fährt in der Erwartung hin, endlich das „Coming-out" aus seiner Wagenburg von Stolz, Resignation und Angst zu schaffen. Während des langen Aufwärmtrainings am zweiten Tag, sie laufen frei herum, tanzen, schreien und brüllen sich an, spürt er immer heftiger werdende Wutimpulse. Aber er kennt das von früher, als seine Aufwallungen immer genau in dem Augenblick verflogen waren, als er sich ihrer bewusst wurde und ein gedanklicher Prozess einsetzte?
Doch das ist diesmal anders. Bei der nachfolgenden Kampfübung, bei der sie versuchen sollen, ihren jeweiligen Partner in einer Art Ringkampf zu Boden zu ziehen, fließt viel von seiner Wut in die Attacken ein. Nicht nur, dass diese von einer Kraft getragen sind, die er sich nicht zugetraut hätte, seine Wutimpulse verlieren sich nicht wie sonst im indifferenten Nichts, sondern steigern sich sogar. Das fällt den anderen in der Gruppe auf. Beim anschließenden Zusammensitzen im Kreis wird er aufgefordert, in die Mitte zu kommen. Wie seine Gefühle gegenüber den Kontrahenten gewesen wären, wird er gefragt?
Wieder in Ruhe und mit viel Abstand überfällt ihn die altbekannte Lähmung. Trübe Stimmungen steigen auf, er bringt das, was er eigentlich sagen möchte, nicht heraus. Alle sind weg, so weit weg, verunsichernd, bedrohlich, fremd! Da rückt Guido, einer der Betreuer, ganz nah an ihn heran, die anderen folgen. Auf einmal ist er von einem Wall verschwitzter, aber warmer und irgendwie auch vertrauter Leiber umgeben.
Der spontane Impuls kommt auf, dagegen anzudrücken und sich anzupressen! Daraus werden ungestüme Attacken, denen schließlich ein gewaltiges Aufbäumen folgt. Seine ganze Anspannung ist plötzlich weg, löst sich in einer Stimmung von schmerzvoller Traurigkeit auf. Er fühlt sich allein gelassen, so allein gelassen, möchte dazugehören, nicht mehr so weit weg sein von allen! Da kommen sie ganz nah heran, drücken und quetschen ihn mit aller Macht. Er beginnt zu schreien, tobt und weint, will, dass sie ihn nicht mehr missachten und attackieren! Aber niemand bedroht ihn, im Gegenteil, er spürt Nähe, Vertrautheit und Geborgenheit, kann durch einen Vorhang von Tränen in offene, lachende Gesichter schauen. Mit einem tiefen Gefühl der Erleichterung löst er sich schließlich aus dem Knäuel.

Auf dem Weg zurück nach Berlin gehen ihm die Bilder immer wieder durch Kopf. Das befreiende Gefühl ist da, eine Wende geschafft zu haben. Nicht nur in seinem Verhältnis zur Gruppe, sondern auch gegenüber Männern im Allgemeinen. Aber er weiß, dass noch ein langer, mühsamer und schmerzhafter Weg vor ihm liegt. Denn wie soll er einmal verlorengegangenes Vertrauen wieder zurückgewinnen? - Auch zu sich selbst? Die Männer in der Gruppe sind durch dieses Wochenende nicht plötzlich zu seinen Freunden geworden. So wie das Entscheidende, darüber macht er sich keine Illusionen, außerhalb der Gruppe stattfinden muss: Im Alltag, im Beruf, mit den Menschen, die sein Leben bestimmen. Aber er weiß, dass er der Gruppe nun unvoreingenommener gegenüber treten kann, ohne die früheren Abwehreflexe, aber mit mehr Mitgefühl und Offenheit.
Zu Beginn der Sommerpause wird er vor die Frage gestellt, ob er bei der Gruppe weiterzumachen will. Klar, da gibt es für ihn kein langes Überlegen. Er spürt, dass er auf dem richtigen Weg ist, jetzt aufzuhören wäre ein großer Fehler! Die Bilanz, mit der er schließlich im Herbst ins Therapiezentrum zurückkehrt, kann sich dann auch sehen lassen: Er hat ein zweiwöchentliches Besuchsrecht für seinen Sohn durchgesetzt, wodurch der zurückliegende Sommer zu einen der schönsten seiner Erwachsenenjahre wurde. Und auch beruflich ging es aufwärts: Mit dem Einstieg in eine Fernseh-Produktionsfirma gelang es ihm, sich eine neue finanzielle Basis zu schaffen. Vorbei also die Zeiten, in denen er nachts aufdringliche ältere Damen und betrunkene Kerle chauffieren musste, um seine Miete zu bezahlen. Und vorbei auch die Nächte, in denen ihm der Schmerz um sein Kind fast den Verstand genommen hat.

© Gottfried Schenk

Der Text ist 1995 in leicht veränderter Form in der Männerzeitschrift „Moritz. Zeitschrift für Männer in Bewegung“ erschienen.