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Buchbesprechung

Aus: DER TAGESSPIEGEL vom 11.8.2016

Ein bisschen wie Kreuzberg
Mit seinem Charlottenburg-Band unternimmt Gottfried Schenk eine Zeitreise ins alte West-Berlin

Charlottenburg, beste Lage: im Norden das Schloss, im Süden der Lietzensee, im Westen - hinter der Autobahnsenke - das feine Westend, im Osten die Schloßstraße mit den dichten, schattigen Bäumen. Ein gemütlicher und ehrlicher Kiez, säuberlich eingerahmt von gutbürgerlichen Adressen. Nur: Wie heißt das Ding eigentlich? Zille-Kiez? Der lebte hier schließlich. Schloßstraßen-Kiez? Klausenerplatz-Kiez? Danckelmann-Kiez? Oder “Charlottenburgs rote Insel”?
So nennt Gottfried Schenk das Viertel, so steht es auf seinem neuen Buch, das mehr ist als eines dieser typischen Fotobücher mit gelangweilten Bildunterschriften. Dieses Werk ist eine Hommage, eine Respektsbekundung an einen ganz speziellen Kiez dieser Stadt.
Rote Insel, Häuserkampf, mitten in Charlottenburg. Die Gegend hier, nahe der Deutschen Oper, wurde schon zu Nazi-Zeiten “Kleiner Wedding” genannt. Das Vorwort schreibt - auch das zeigt die Bedeutung des Kiezes - ein gewisser Ehrhart Körting, 74, früher nicht nur strenger Innensenator der Stadt, sondern davor eben auch Baustadtrat in Charlottenburg. In den 70ern war das. Und die hatten es in sich.
“Als ich 1975 Baustadtrat in Charlottenburg wurde, war eine meiner wichtigsten Aufgaben die Sanierung des Klausenerplatz-Kiezes”, erinnert sich Körting. “Es ging also nicht um die Sanierung einzelner Bauten oder eines Häuserblocks - es ging um eine kleine Stadt.”
Eigentlich hätte der “Klausenerplatz-Kiez” (Körting) mit den heruntergekommenen Häusern und den kargen Innenhöfen mehr oder weniger abgerissen und akkurat-brav neu gebaut werden sollen. Das konnte verhindert werden. Nach leidenschaftlichen Debatten einigte man sich auf die “behutsame Stadterneuerung” - was Vorbild wurde für viele andere Ecken in Berlin.
Nicht einfach aufgegeben, sondern gerettet sollte die Gegend werden, die Heimat für Arbeiter, Studenten, Kriegerwitwen, Türken. Ärmere Leute, die kein Problem damit hatten, wenn die Fassade bröckelte und das Klo im Treppenhaus aufzusuchen war. War halt so. Und billig. Dieser Kiez, schreibt Schenk, “war ein bisschen wie Kreuzberg, aber überschaubarer”. In der Nähe lag die TU.
Autor und Fotograf Gottfried Schenk nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise in die West-Berliner Vergangenheit. Er hat selbst dort gelebt, sich in Bürgerinitiativen engagiert, hat ein kämpferisches Transparent an seinen Balkon gehängt und mit seiner Canon-Kamera den Alltag festgehalten. Und er hat glücklicherweise die Schwarz-Weiß-Dias nicht im Keller verrotten lassen. Denn egal, wem man dieses Buch zeigt - alten, neuen, ehemaligen Anwohnern: Sie alle lächeln. Kopfkino.
“Das ist mein Kohlenhändler!”
“Was, da war mal ein Laden drin?”
“... schau dir den Körting an!”
Erhart Körting sitzt auf dem ersten Foto beim Mietertreffen in der Kneipe “ZAP” in der Seelingstraße, einer der zentralen Achsen des Viertels, wo es noch heute beste Bäcker (“Brotgarten”), Kneipen, Fleischer, Eisläden gibt. Körting mit stattlichem Schnauzer, das Bierglas auf dem Tisch, Zigarettenrauch überm Tresen. Um ihn herum bärtige Studenten, viele Alte. Alle tragen in der Kneipe dicke Klamotten, weil es offenbar kalt ist. Der Kohleofen steht mitten im Raum.
Jedes Bild erzählt hier eine Geschichte: die Polizeiwannen vor den besetzten Häusern. Wütende Plakate an den Balkonen. Remisen in jedem Innenhof. Keine Bäume entlang der heute so grünen Straßen. “Engelhardt”-Reklame an jedem Haus, sogar am Obstladen. Und immer wieder Protest: Wo sich heute der Sportplatz befindet, lag früher ein autonomes Zeltlager, an das sich heute so mancher Alt-Linke erinnert:  “Immer höhere Mieten - das lassen wir uns nicht bieten.” Nur das Wort Gentrifizierung” war noch nicht so geläufig wie heute.
Und manchmal sind die Aufnahmen aus dem Alltag einfach nur ulkig. Da ist der stumme, etwas hilflos wirkende Zettel auf der bewohnten Baustelle in der Seelingstraße: “Im Hinterhaus wohnen noch welche”, schreibt ein Mieter. “Nur damit Sie Bescheid wissen.”

André Görke

Charlottenburgs rote Insel_Umschlag_vorne_quer

Charlottenburgs rote Insel. Vom Zille-Milieu zum Klausenerplatz-Kiez (be.bra verlag, Berlin,
ISBN 978-3-8148-0227-5, 20 EUR)